Werner Engelmann
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fluechtlings theater- kleiner-prinz.de Werner Engelmann
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Identitäre Ideologie
und "Sichtbarkeit" in der Gendern-Bewegung
Ideologiekritische politische Analyse

 

 

Teil 3

26


III. Historische Regressionen:
Frauenbilder und öffentliche "Sichtbarkeit"

 

 


1. Patriarchat und dualistische Geschlechterbilder

    im 19. und 20. Jahrhundert
    und die Gendern-Bewegung

 


Im historischen Teil dieser Analyse wurde aufgezeigt, dass der vage und unhistorische Begriff des
"Patriarchats"
, wie die "feministische Linguistik" und die Gendern-Bewegung ihn verwenden,
zumindest bezogen auf den Feudalismus, am Kern vorbeigeht.


Es erhebt sich also die Frage, welche konkrete Ausprägung von Gesellschaft hinter diesem Begriff
steht
, der hier unhistorisch verallgemeinernd zum Zweck der Abgrenzung und Selbstrechtfertigung
benutzt wird.


Geht man von gegenwärtigen Auseinandersetzungen aus, so denkt man beim Begriff "Patriarchat"
zunächst an islamische Gesellschaften, mit deren Traditionen und Denkformen wir im Zuge der
Einwanderungsproblematik und insbesondere in der Auseinandersetzung mit Islamismus konkret
konfrontiert sind.
Und in der Tat trifft der Zustandsbeschreibung der Frau als einem Wesen, das unter der Burka zur
"Unsichtbarkeit" verdammt ist, hier sogar wortwörtlich zu.


In diesem Zusammenhang erweist sich die Absurdität der Behauptung, dass in der "deutschen
Männersprache"
, die mit dem "generischen Maskulinum" ein "Beachtetwerden" und "Gemeintsein" 1
für Frauen ja gar nicht zulasse, die Ursache für weibliche Benachteiligung zu finden sei.
Kennt doch die türkische Sprache nicht einmal eine Geschlechterdifferenzierung, womit auch solche
sprachliche Diskriminierung ausgeschlossen wäre. Und daraus wäre - nach der Logik einer Luise
Pusch und der Gendern-Bewegung - zu schließen, dass das Reich Erdogans geradezu ein
feministisches Paradies sein müsste.
Nun wissen wir freilich, dass dem keineswegs so ist.


Sicher ist es denkbar, dass solche Erfahrungen bei der diffusen Gedankenwelt in der Gendern-
Bewegung eine Rolle spielen. Darüber zu spekulieren, ist jedoch müßig.
Denn die unhistorische und diffuse Begrifflichkeit, die bei Gendern-Fans oft festzustellen ist, lässt
eine exakte Bestimmung der Herkunft solchen Denkens gar nicht zu.


Historische Forschung steht und fällt aber mit möglichst exakten historischen Bestimmungen. Somit
ist also der gesellschaftliche Zustand zur Erklärung heranzuziehen, dessen Einfluss als der
wahrscheinlichste gelten kann.


Wer die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts miterlebt hat, dem sind, bezogen auf die Situation
von Frauen, die berüchtigten "3 K" ein Begriff: "Küche, Kirche, Kinder".
Damit war ihr Lebensbereich abgezirkelt und beschrieben. Und mit zunehmender Verbreitung der
Konsumgesellschaft gesellte sich ein "viertes K" hinzu: "Kosmetik".
Eine Welt, die in der Ausrichtung auf Konsum und Verdrängung der Vergangenheit ein traditionell

reaktionäres Familien- und Frauenbild restaurierte.

 

27
Wer sich diese Welt vor Augen hält, die gar nicht so lange zurück liegt, (und sei es durch Gespräche
mit Eltern oder Großeltern), der sollte eigentlich die in der kurzen Zeit beachtlichen Fortschritte
bezüglich weiblicher Emanzipation bemerken, 16 Jahre Bundeskanzlerin eingeschlossen - und all das
ohne radikalen Umsturz im Sprachsystem.


Restaurative Perioden solcher Art gab es in den letzten zwei Jahrhunderten immer wieder: von der
nachnapoleonischen Epoche über Repression und Gartenlaube mit Zensurbestimmungen nach der
Revolution von 1848, vermischt mit zunehmend nationalistischen Elementen in der Bismarck-Ära, bis
zur Rückwendung zu germanischen Mythen während der schlimmsten Zeit des Faschismus.


Es ist dabei davon auszugehen, dass vor allem die Blut- und Boden-Ideologie der Nazizeit tiefe
Spuren hinterlassen hat, derart, dass es selbst aufrechten Demokraten bis heute schwer fällt, eine
rationale Form der Auseinandersetzung bei dem Thema "Gleichberechtigung" zu finden.
All das aber konnte eine zunehmend selbstbewusster werdende Frauenbewegung nicht verhindern.
Eine Frauenbewegung freilich, die für ihre Rechte in der Realität und auf der Straße kämpfte, und
nicht mit fiktiven Sprachkonstrukten an Schreibtischen und in Redaktionsstuben.

 


Um die Leistungen dieser Bewegung wertzuschätzen, ist es angebracht, sich die restaurativ-imperiale
Welt
vor Augen zu führen, mit der diese Frauenbewegung im 19. Jahrhundert konfrontiert
war.
Dies beispielsweise anhand von Romanen Theodor Fontanes mit seiner einfühlsamen
Charakterisierung von Frauengestalten.
Frauen, die wie Effi Briest von einem "Angstapparat" ihres Ehemanns beherrscht wurden, ausweglos
zur Verkümmerung ihres Gefühlshaushalts verurteilt waren, um schließlich zum Gegenstand
perverser "Ehrenduelle" zu werden.


Doch selbst in dieser zweifellos "patriarchalen" Welt des 19. Jahrhunderts waren auch Männer Opfer
eines "tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas".
So wird sich Effis Ehegatte Innstetten, unmittelbar vor dem Duell, in dem er seinen Nebenbuhler
Crampas tötet, der Absurdität wie auch der Ausweglosigkeit und Notwendigkeit seines Tuns
bewusst:
"Unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze
gilt."
2


Das "tyrannisierende Gesellschafts-Etwas" zeigte sich nicht nur in strenger Trennung der Sphären
und Zuständigkeiten: Öffentlichkeit für den Mann, Haus und Familie für die Frau.

Es durchdrang auch die Gedankenwelt, etablierte mit Hilfe pseudo-psychologischer "Forschungen"
ein starres dualistisches System fixierter, vermeintlich spezifischer "Charaktereigenschaften" von
Mann und Frau, die als "naturgegeben" angesehen wurden: "aktiv" versus "passiv", "stark" versus
"schwach", "rational" versus "emotional"
. 3


Solche biologistisch geprägten Klischeebilder von Geschlechtlichkeit finden sich heutzutage wohl
noch bei erzkonservativen, meist "christlich" geprägten Kreisen. Und es sei daran erinnert, dass die
katholische Kirche bei der Verteidigung des Dogmas von der "jungfräulichen Empfängnis" ähnlich
biologistisch argumentiert und dabei ausgerechnet "Natürlichkeit" beschwört. Und im Namen
solcher "Natürlichkeits"-Ideologie ziehen auch selbsternannte "Lebensschützer" zu Felde gegen
Schwangerschaftsabbruch, mit meist drastischen Begriffen wie "Kindermord".


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Es liegt nahe, in solchen immer noch anhaltenden Auseinandersetzungen den Impetus zu suchen,
der die Gendern-Bewegung - in dem Fall sicher zu Recht - antreibt. Wobei freilich der missionarische
Eifer dem der Gegner, etwa unter der "Lebensschützern" nicht viel nachsteht.


Sehr bedenklich ist freilich, dass dabei nicht nur Methoden der Auseinandersetzung von Gegnern
übernommen werden, so etwa wenn Kritikern der Gendern-Bewegung pauschal
"Frauenfeindlichkeit" unterstellt wird.


Auch bezüglich der Inhalte und der Geschlechterbilder zeigt sich, dass die Gendern-Bewegung
beileibe nicht so "fortschrittlich" ist, wie sie sich selbst gebärdet.
Gerade die durchgehende, radikale Sexualisierung der Sprache zeigt, in welchem Maße die Gendern-
Bewegung selbst noch den klischeehaften Geschlechtervorstellungen verhaftet ist, die sie ja
bekämpft.


Damit ist vor allem der Dualismus von "Weiblichkeit" und "Männlichkeit" gemeint, der sich etwa
bei Luise Pusch durch alle Schriften zieht. Der sich auch in der Praxis des Genderns, in einem inneren
Drang nach "Sichtbarkeit" und "Sichtbarmachen" von Weiblichkeit äußert, immer und überall,
losgelöst vom Kontext und meist ohne Sinnzusammenhang.


Eben das meint Nele Pollatschek, wenn sie treffend formuliert:
"Gendern ist eine sexistische Praxis, deren Ziel es ist, Sexismus zu bekämpfen." 4
Und für ihr vom Gendern aufgezwungenes "sprachliches Dauerfrausein" macht sie Besessenheit von
Genitalien verantwortlich : "Denn es geht primär um das imaginierte Geschlecht im biologischen
Sinne, also um Geschlechtsteile."


Unabhängig davon, ob man Frau Pollatscheks Analyse teilt oder für überzogen hält:
Sehr wahrscheinlich hat sie Recht, dass in den Vorstellungen vom eigenen Geschlecht ein Movens zu
finden ist, das die Gendern-Bewegung zu ihrem Aktionismus antreibt.
Präziser ausgedrückt: Der fast manische Drang nach öffentlicher "Sichtbarkeit" seines Geschlechts -
für das man ja nichts kann - weist auf einen ebenso starken Drang nach Kompensation hin:
Ständige "Sichtbarkeit" des eigenen Geschlechts, die "Identität" mit sich selbst vortäuscht, wird
notwendig, wo diese nicht gegeben ist. Die Fiktion der Zugehörigkeit zu einer bedeutenden
"Bewegung" kompensiert - scheinbar - eigene Gefühle der Minderwertigkeit.


Von Studien zum "autoritären Charakter" sind solche Phänomene und Strategien hinlänglich
bekannt. Und Heinrich Mann hat im Roman "Der Untertan" schon vor dem ersten Weltkrieg den
wilhelminischen Untertanen-Typ geradezu meisterhaft beschrieben. 5


In diesem wie auch im Zusammenhang mit dem Anspruch auf "legitime" Nachfolge der ersten
Frauenbewegung stellt sich die Frage, wie es mit solcher Art demonstriertem "Selbstbewusstsein"
tatsächlich bestellt ist.
Wirklich selbstbewusste Frauen gieren nicht nach permanenter öffentlicher Selbstbestätigung. Sie
haben diese gar nicht nötig.


So etwa fühlt sich Judith Sevinç Basad, Autorin, Journalistin und Kolumnistin, durch das von der

Gendern-Bewegung transportierte "ultradefizitäre" Frauen-Bild regelrecht beleidigt:


29
"...die Frau als schwaches und hilfsbedürftiges Wesen, das ohne die Hilfe von Journalisten überhaupt
nicht in der Lage ist, sich emanzipiert zu verhalten. Und das finde ich um einiges sexistischer, als das
Sternchen nicht zu verwenden."
6


Frau Sevinç Basad trifft damit den Nagel auf den Kopf.
Denn in der Tat steht das von der Gendern-Bewegung indirekt vermittelte Frauenbild in eklatantem
Widerspruch zu dem Bild von "Selbstbewusstsein", das man sich selbst suggerieren möchte.
Dieses Frauenbild erinnert in fataler Weise an das dichotomische Geschlechterbild zu Zeiten eines
Theodor Fontane im wilhelminischen Deutschland.


Dies belegt, in welchem Maße das Bild der Frau, die sich selbst nur als Gegenbild zum Mann und in
Abgrenzung zu ihm begreifen kann
, in der Gendern-Bewegung noch verinnerlicht ist.
Ihre hilflosen Aktionen wirken wie ein Vexierbild der patriarchalen Gesellschaft, die sie wütend
bekämpft, von der sie sich krampfhaft abzugrenzen sucht. Wobei gerade dieser Aktionismus wider
Willen die psychische Abhängigkeit vom patriarchalen Frauenbild und seine Macht über sie bestätigt.

 


Eben hier setzt die scharfe Kritik der französischen Philosophin und Feministin Élisabeth Badinter am
"Differenzdenken" des US-amerikanischen "Feminismus" und am Einfluss des angelsächsischen
"Radikalismus" an, der in gleichem Maße dessen deutschen Abklatsch in der Gendern-Bewegung
trifft: 7 Deren Tendenz zu "Viktimisierung" der Frau und zu Rückfall in Geschlechterkampf-
Attitüden bestätigt eher Reste patriarchalen Denkens als dass sie diese zu überwinden helfen.


Selbstbewusstsein lässt sich nicht durch Selbstsuggestion via öffentlicher Dauerberieselung
erreichen. Denn Wirklichkeit formt sehr wohl Sprache und damit auch Bewusstsein, nicht aber
bestimmt Sprache in gleicher Weise die Realität.


Dazu bedarf es, nach dem Vorbild der Frauenbewegung, einer solidarischen Aktion in der Realität,
aber auch eines universalen Denkens und eines gemeinsamen Kampfes von Frauen und Männern
für Menschenrechte entsprechend den Forderungen von Élisabeth Badinter.


In diesem Sinne braucht eine moderne Gesellschaft selbstverständlich selbstbewusste Frauen:
Frauen, die Gleichberechtigung in der Realität vorantreiben, die Dax-Vorstände erobern, die
politischen Parteien, welche angemessene politische Mitverantwortung verhindern, herausfordern
und zur Rechenschaft zwingen.
Man braucht aber keine Frauen (ebenso wenig wie Männer), deren Gedanken ausschließlich um
Selbstwertgefühle und Bestätigung derselben kreisen, die wertvolle Zeit und Energie mit kindischen
Umbenennungs-Aktionen und Wortakrobatik verschwenden.


In einer Hinsicht kann man der Gendern-Bewegung freilich Recht geben - sofern sie das als
Monstranz vorangetragene Wort von der "Gender-Gerechtigkeit" wirklich ernst nimmt:
Wirkliche Veränderung in der Realität setzt auch voraus, den angestrebten Zustand geistig zu
antizipieren. Das aber erfordert es, die gemeinsam als richtig erkannten Ziele im
gesamtgesellschaftlichen Diskurs auszuhandeln und zu gemeinsamer Aktion zu führen, nicht nur von
Männern und Frauen.
Mit den Worten von Nele Pollatschek: "Der Weg zu Gleichheit ist Gleichheit." 8


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Anmerkungen:


1 Das Deutsche als Männersprache, S. 23
2 Theodor Fontane, Effi Briest, 27. Kapitel, Klett-Editionen, 1988, S. 240 f.
3 Vgl. MA Jenny Spanier, Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert am Beispiel von "Nora" oder "Ein
Puppenheim", Abschnitt 2.2.1, https://www.grin.com/document/370057
4 Nele Pollatschek, https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutschland-ist-besessen-von-genitalien-gendernmacht-
die-diskriminierung-nur-noch-schlimmer/26140402.html
5 Der Roman erschien in Buchform erst 1918, er war aber im Vorabdruck als Romanbeilage zu
verschiedenen Zeitungen bereits 1914 veröffentlicht worden. Dieser musste bei Kriegsausbruch abgebrochen
werden.
6 Streitgespräch mit Anatol Stefanowitsch, 27. 6. 2020,
https://www.deutschlandfunk.de/judith-sevinc-basad-vs-anatol-stefanowitsch-sollendie.
2927.de.html?dram:article_id=479445
7 Fausse Route, deutscher Titel: Die Wiederentdeckung der Gleichheit. Schwache Frauen, gefährliche
Männer und andere feministische Irrtümer, 2004
8 Nele Pollatschek, a.a.O.

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2. Tendenzen der Refeudalisierung

 


Im vorangegangen Kapitel sind die inhaltliche Ausrichtung und die Qualität des Menschenbilds,
speziell des Frauenbilds untersucht sowie historische Analogien aufgezeigt worden.


In diesem Kapitel wird ihre Funktion in der gegenwärtigen Gesellschaft analysiert.
Dazu werden die soziologischen Forschungen von Jürgen Habermas zum "Strukturwandel der
Öffentlichkeit"
herangezogen. 1


Im historischen Teil zur "Kleinen Kulturgeschichte der öffentlichen 'Sichtbarkeit'" wurde bereits die
Funktion von "Repräsentation" in der feudalen Gesellschaft erörtert.
Hier geht es um den strukturellen Wandel, der mit der Ausbreitung der bürgerlichen Gesellschaft
eingesetzt hat, und um die heute prägenden Elemente.


Die Veränderungen in der sich konstituierenden bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der
Feudalgesellschaft erklärt Habermas wie folgt:
"'Öffentlich' (...) bezieht sich nicht mehr auf den repräsentativen 'Hof'. (...) Grundherrschaft
verwandelt sich in 'Polizei'. (...) Als Pendant zur Obrigkeit konstituiert sich die bürgerliche
Gesellschaft."
2


Ein weiterer Wandel im öffentlichen Diskurs gegenüber der vorrevolutionären bürgerlichen
Gesellschaft des 18. Jahrhunderts setzt nach Habermas mit der zunehmenden Bedeutung von
Werbung für den Warenverkehr ein:
"Liberalisierung des Marktverkehrs" führt zur "Überschwemmung der Öffentlichkeit mit
Werbepublikationen", "eine langfristigen Absatzstrategie"
zu "schwindender Markttransparenz".
"Preiskonkurrenz"
wird durch "Konkurrenz über die Werbung" ersetzt, in deren Folge der
"Tauschwert durch psychologische Werbemanipulation mitbestimmt wird". 3


Der entscheidende Wandel erfolgt jedoch erst mit dem Übergang zur "Praxis der public relations",
also der "Meinungspflege": Diese "unterscheidet sich von Werbung dadurch, dass sie die
Öffentlichkeit ausdrücklich als politische in Anspruch nimmt."
Hier darf die Werbung "als
Selbstdarstellung eines privaten Interesses gar nicht mehr kenntlich sein. Sie verleiht ihrem Objekt die
Autorität eines Gegenstandes öffentlichen Interesses."
4


Damit ist der entscheidende Schritt vollzogen, der eine historische Regression einleitet:
"Die bürgerliche Öffentlichkeit nimmt im Maße ihrer Gestaltung durch public relations wieder
feudale Züge an: (...) Publizität ahmt jene Aura eines persönlichen Prestiges und übernatürlicher
Autorität nach, die repräsentative Öffentlichkeit einmal verliehen hat."
5

 


Fasst man, im Vergleich dazu, die Gendern-Bewegung als eine Form von "public relations" im
genannten Sinne auf, so ergeben sich hieraus tiefgehende Einsichten in deren Funktion.
Dass die Gendern-Bewegung auf "Meinungspflege" abzielt, steht außer Frage.
In ihrem Bezug zu "Identitätspolitik" wird auch deutlich, dass sie "Öffentlichkeit ausdrücklich als
politische in Anspruch nimmt."


32
Mit der Behauptung eines "Rechts auf Sichtbarkeit" durch Anatol Stefanowitsch wird die
"Selbstdarstellung eines privaten Interesses" sogar explizit gefordert. Indem er sich dabei (wie
aufgezeigt wurde) hinter angeblicher Fürsorge für "binäre Menschen" versteckt, wird zugleich auch
dieses private Interesse "gar nicht mehr kenntlich".


So bleibt noch nachzuweisen, inwiefern "die Autorität eines Gegenstandes öffentlichen Interesses" in
Anspruch genommen wird.
Dazu erinnere man sich an die Ausführungen zur "feministischen Linguistik" von Luise Pusch:
Da wurde in der Vorbemerkung die "Definition" von "Feminismus" nach Luise Pusch zitiert:
"Feminismus ist die Theorie der Frauenbewegung."
Unter "Frauenbewegung" versteht sie dabei die "ältere Frauenbewegung" von 1848 bis 1933, mit
"Feminismus" meint sie sich selbst und die "neue Frauenbewegung".


Nun hat die erste Frauenbewegung ja unbestreitbare Erfolge vorzuweisen, wie etwa die Erkämpfung
des Frauenwahlrechts. Weshalb sollte sie also im Nachhinein eine "Theorie" dazu nötig haben?


Offensichtlich geht es einer Luise Pusch auch gar nicht darum. Vielmehr erhebt sie sich mit dem
Anspruch, für die "erste Frauenbewegung" die Theorie quasi nachzuliefern, geistig über sie und
reklamiert zugleich deren Erfolge für sich. Vor allem aber soll dies den Anspruch auf legitime
Nachfolge der "ersten Frauenbewegung" und den eigenen Exzessen den Schein von
Glaubwürdigkeit verleihen.


Im Sinne von Habermas leiht sich Luise Pusch also "Prestige und übernatürliche Autorität" der ersten
Frauenbewegung, um sie sich selbst und ihrem "Objekt", der Gendern-Bewegung zu "verleihen".


Und die daraus erfolgenden Konsequenzen sind nach Habermas fatal:
Nicht anders wie zu die zu "public relations" verkommenen sozialen Beziehungen in der
bürgerlichen Gesellschaft nimmt auch die Gendern-Bewegung " feudale Züge an"
.


Wie wäre das zu verstehen? -
Als typisch für "feudale Repräsentation" wurde bei den historischen Ausführungen (Teil 2) einerseits
"Einschüchterung des Volkes" benannt, andererseits, den sozialen Aufstieg der kleinen Schicht von
Ministerialen "öffentlich sichtbar zu machen".


Auch diese beiden feudalen Merkmale sind hier übertragbar.
Von "Einschüchterung" kann man sehr wohl sprechen, wenn ein Wolfgang Thierse (wie zu Beginn
von Teil I, Ideologiekritische Analyse, angesprochen) wegen kritischer Äußerungen zu Exzessen von
"Identitätspolitik" mit einem Shitstorm überzogen wird.
Ähnliches gilt auch für die Mehrheit der Bevölkerung, die sich in ihrem Sprechen von einer kleinen
"elitären" Minderheit bevormundet fühlt.


Auch die Vermutung, es gehe vorrangig darum, eigene Ambitionen auf Meinungsführerschaft
"öffentlich sichtbar zu machen" und zu legitimieren, trifft wohl den Nagel auf den Kopf.
Und die fatale Verbindung mit "identitärer" Ideologie, welche Menschen, die nicht der von der
Gendern-Bewegung jeweils unter die Fittiche genommenen Minderheit gehören, generell die
Fähigkeit zu Empathie abspricht, befördert die Aufspaltung der Gesellschaft in kleine Entitäten, als
deren übergreifenden Zusammenhalt sie sich selbst begreift.


Der Vorwurf der Spaltung der Gesellschaft zu Zweck der Untermauerung eigener Herrschaft ist nicht
mehr von der Hand zu weisen.


33
So wird nicht nur im Frauenbild der Gendern-Bewegung eine Rückwendung zum dichotomischen
Geschlechterbild des 19. Jahrhunderts erkennbar.
Auch im Konzept der "Sichtbarkeit" zeigen sich elitäre Elemente wie auch eine Rückwendung zu
feudal anmutenden Formen des Umgangs untereinander.


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Anmerkungen:


1 Habilitationsschrift, Luchterhand-Verlag Berlin, 6.Aufl. 1974, 11962
2 Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 226
3 Ebd., S. 226
4 Ebd., S. 230 f.
5 Ebd., S. 233
9 Das Deutsche als Männersprache, S.107

 

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34
3. Gendern-Bewegung im Bannkreis von Globalisierung, Kulturkampf
    und "Cancel Culture"

 


Nach den voranstehenden ideologiekritischen, sozialgeschichtlichen und soziologischen Analysen
bleibt noch ein Wort zur Klärung und dem weiteren Vorgehen.


Die Abkehr der Gendern-Bewegung vom Universalismus und der deutsche Sonderweg im Vergleich
zu europäischen Entwicklungen ist nach vorstehenden Analysen als fataler Irrtum zu bezeichnen, der
mit dem von Luise Pusch beschrittenen, verhängnisvollen Irrweg zusammenhängt, eine
"Kriegserklärung" an die deutsche Sprache zu verfassen, statt gemeinsame Aktionen zur Realisierung
von Gleichberechtigung anzustreben.


Fatal erscheint vor allem, dass ihre oft absurden Behauptungen, aus einer Zeit der Exzesse in der
Nachfolge der Studentenbewegung von 1968, noch 40 Jahre später von Gendern-Fans gierig
aufgegriffen und permanent wiederholt werden - offensichtlich nicht trotz, sondern wegen ihrer
hasserfüllten Radikalität.


Und schlimmer noch: Dass, getragen von akademischem Dünkel der Selbstüberhebung, sich daraus
das Selbstbild einer vermeintlichen geistigen "Elite" konstituiert, die dem Rest der Republik "Moral"
und "Fortschrittlichkeit" zu predigen und vorzugeben habe.
Eine selbsternannte "Elite", die zu allem Überfluss sich dabei auch noch - überwiegend - auf "linke"
Werthaltungen beruft. Sind doch vergleichbare Bestrebungen von "Gesellschaftsveränderung" in der
Regel eher rechter bis extrem rechter Provenienz.


Ein Befund, der ein mehr als ernüchterndes Licht auf den Zustand "frauenbewegter" Intellektueller -
beiderlei Geschlechts - gegenwärtig in Deutschland wirft, die sich so eklatant von der
selbstbewussten, kämpferischen Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts unterscheiden.
Ein Befund, der die fatalen Folgen der hier analysierten Symbiose von Gendern-Bewegung und
"identitärer" Ideologie deutlich macht - einer Ideologie, die subjektivistisch erfahrene
Befindlichkeiten in den Mittelpunkt stellt und verabsolutiert, die den Blick auf universale, die
Gemeinschaft verbindende Werte verschüttet.


Es wurde gezeigt, dass diesen Tendenzen ein prinzipieller Irrtum zugrundeliegt, der Meinung und
Interpretation in ihrem subjektiven Zugriff mit puren Fakten verwechselt. Tendenzen, die sich im
Zuge der Globalisierung über vermeintlich "soziale" Medien mit rasender Geschwindigkeit
verbreiten, Verschwörungstheorien und Scharlatanerie jeglicher Art Tür und Tor öffnen.
Tendenzen, die ihre zerstörerische Wirkung sich vor allem in nahezu bürgerkriegsähnlichen
Zuständen in den USA der Trump- und Nach-Trump-Ära offenbaren.


Und fatal ist, dass Protagonisten der Gendern-Bewegung sich - in naiver Weise - ausgerechnet die
hier entstandenen, von Kulturkampf geprägten Konzepte des "Cancel Culture" meinen zum Vorbild
nehmen zu müssen.


Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die naive Rezeption pseudo-revolutionärer Sprachkonzepte einer
Luise Pusch damit im Zusammenhang steht.


Ist diese Vermutung richtig, dann ergeben sich daraus Folgen für das hier verfolgte Konzept:
Es ist nicht zu erwarten, dass die Widerlegung des Ansatzes der Gendern-Bewegung als in der
Grundkonzeption irrig alleine schon zu Umdenken und Neujustierung führt.


35

Eine solche Erwartung vernachlässigt, dass "identitäres" Selbstverständnis nicht rational gelenkt ist,
dass es derart mit subjektiver Selbsterfahrung eigener Existenz verknüpft ist, dass rationale
Widerlegung eher zu Aktionen der "Selbstverteidigung" und erhöhter Aggressivität führt.
Erfahrungen mit der "Querdenker"-Szene, gerade in jüngster Zeit, belegen dies leider in
ausreichendem Maß.


Das Dilemma eines "identitären" Selbstverständnisses ist, dass es, irrational gesteuert, einer
Identifikation mit einer "Heilsbotschaft" bedarf, um gestörtes eigenes Selbstwertgefühl - und sei es
nur scheinbar - in dadurch inspiriertem missionarischem Eifer zu kompensieren.


Das radikale Konzept von Luise Pusch und der "feministischen Linguistik", das die Zerstörung der
vermeintlich "irren", zutiefst "frauenfeindlichen" "deutschen Herrensprache" zum Programm hat, um
daraus eine andere Sprache nach eigenem, "feministischem" Bilde zu formen - dieses radikale
Konzept stillt offenbar dieses Bedürfnis nach einer "Heilsbotschaft".
Diese Einschätzung wird durch die permanenten biblischen Ausflüge von Luise Pusch selbst bestätigt,
wie auch durch die Art mancher Gendern-Fans, diese "Botschaft" in simplifizierten Slogans wie eine
Monstranz vor sich her zu tragen.

 


Als Fazit aus dieser Zustandsbeschreibung resultiert:
Weder die hier vorgenommene politische Analyse noch eine linguistische Analyse ist, für sich allein
genommen, hinreichend als Konzept für die Förderung einer nachhaltigen Sprachreform, die
berechtigten Belangen aller Angehörigen der Sprachgemeinschaft, damit auch der "Gender-
Gerechtigkeit" Rechnung trägt.


Dazu sind realistische Entwürfe notwendig, welche dem verbreiteten Bedürfnis nach Identifikation
entgegenkommen, die im gewissen Sinn allen Angehörigen der Sprachgemeinschaft "eine Heimat"
bieten und es zugleich ermöglichen, individuellen Gefühlen und Sichtweisen angemessenen
Ausdruck zu verleihen.


Es sei nicht verheimlicht, dass nach gegenwärtigem Erkenntnisstand und eigener Überzeugung die
gegenwärtige deutsche Sprache mit ihrem Regelsystem, einschließlich des "generischen
Maskulinums",
eine wesentlich bessere Grundlage dafür bietet als die künstlich sexualisierte, nur
scheinbar "gendersensible" Sprache nach dem Verständnis der Gendern-Bewegung.
Freilich muss sich auch diese "Grundlage" offen zeigen für Veränderungen und - wie es vielfachen
historischen Beispielen entspricht - sich aktuellen Bedürfnissen anpassen.


Im Vorgriff auf noch ausstehende linguistische Analysen sei ein Punkt festgehalten:
Die Chancen für den Entwurf einer solchen Grundkonzeption stehen nicht schlecht - vorausgesetzt,
diese Analyse bleibt nicht bei der bloßen Widerlegung des Pseudokonzepts der Gendern-Bewegung
stehen, sondern versucht eigene Vorstellungen, in Hinblick auf legitime Bedürfnisse der gesamten
Sprachgemeinschaft zu entwickeln.


Für die Begründung dieser Hoffnung sei ein Beispiel genannt:
Der zentrale Vorwurf von Luise Pusch an "die deutsche Sprache" ist:
Frauen seien mit dem "generischen Maskulinum" nur "mitgemeint", damit werde ihre "Identität
'menschliches Wesen'"
nicht bestätigt, dies ziele also ab auf ihre "Nichtexistenz als Mensch". 1
Und Schuld daran sei "die deutsche Sprache" als "Herrensprache" in Gänze.


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Verfolgt man den Gedankengang, so fällt auf, dass hier eine ganze Reihe willkürlicher Setzungen
aufeinander folgt und sich bis zur Klimax der behaupteten "Nichtexistenz als Mensch" für Frauen
steigert. Und man hört geradezu den empörten Aufschrei sich "betroffen" fühlender Frauen und sich
mit ihnen solidarisierender Männer.
Und keiner wagt es auszusprechen, was hier offenbar vorliegt: ein Versuch der Manipulation auf
dem Weg gezielter, sich steigernder Emotionalisierung - eine Praxis, die man von einem bestimmten
Boulevardblatt nur allzu gut kennt. Und, wie aufgezeigt wurde, eine leider sehr erfolgreiche
Manipulation.


Die kritische Auseinandersetzung mit solcher Art manipulativer Qualität der "feministischen
Linguistik"
hat aber nicht erst an deren Endpunkt anzusetzen. Der entscheidende Schritt ist bereits
der erste, scheinbar "logische" und überzeugende, der längst zum Glaubensbekenntnis aller
Gendern-Fans gehört: Die Behauptung, Frauen seien im Deutschen angeblich immer nur "mit
gemeint".


Die scheinbare "Logik" dieser Behauptung basiert auch, wie viele andere Behauptungen von Luise
Pusch, auf ihrer nahezu durchgehenden Methodik, Satzbeispiele aus dem Kontext zu reißen und die
soziale Valenz, die durch den Hintergrund konkreter sozialer Erfahrungen des Sprechers in die
Wortbedeutung einfließt, grundsätzlich zu ignorieren.
Dies heißt, dass bereits diese, als Faktum dargestellte Behauptung, als bloße Interpretation
aufzufassen ist.
Eine Interpretation zudem, in die nach der Hermeneutik von Gadamer 2, bereits eine
ganze Fülle von subjektiven Vormeinungen einfließt, bei der die "feministische" Ideologin Luise Pusch
über die Linguistin triumphiert hat.


Diesem Sachverhalt nachzugehen und aufzuklären, was es mit dem behaupteten "bloß Mitgemeint-
Sein"
von Frauen beim "generischen Maskulinum" wirklich auf sich hat, das wird eine der
wesentlichen Aufgaben der linguistischen Analyse sein.


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Anmerkungen:


1 Das Deutsche als Männersprache, S.107
2 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 4. Auflage,
Tübingen 1975

 

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