Vorbemerkung: Gendern als historischer und demokratischer Anachronismus
Seit einem Jahr tobt in Europa ein Krieg, ausgelöst durch den Überfall der Atommacht Russland auf sein Nachbarland, die Ukraine. Damit geht eine Krise mit existentieller Bedrohung für demokratische Staaten in Europa einher. Im aktuellen Fall existiert die Bedrohung sogar mehrfach: durch Krieg, Pandemie, weltweite Umweltzerstörung und Klimakatastrophe.
„Zeitenwende“ – so kennzeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz treffend den Beginn dieses imperialistischen Angriffskriegs durch Putin-Russland am 24. Februar 2022.
Eine „Zeitenwende“ stellt auf den Kopf, was lange unangefochten galt, von vielen sogar für unveränderlich gehalten wurde. Sie zwingt, ob man will oder nicht, eigene Überzeugungen und eingeschliffene Verhaltensweisen auf den Prüfstand zu stellen. Gefragt sind selbstkritisches Verhalten und Mut, die nötigen Konsequenzen zu ziehen.
Überzeugte Pazifisten wissen, wie schmerzhaft das ist. Frühere russische Gesprächspartner sitzen im Gefängnis oder haben ihre Gesinnung gewechselt wie ein Hemd. Und wer seiner pazifistischen Überzeugung treu bleibt, findet sich, der Naivität bezichtigt, plötzlich auf der Anklagebank wieder.
Extreme Polarisierung drückt Kriegs- und Krisenzeiten ihren Stempel auf. Und das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.
Und doch enthalten Kriegszeiten auch Chancen. Sie decken schonungslos gesellschaftliche Fehlentwicklungen auf. Im aktuellen Fall führte es endlich zur Erkenntnis, wie gefährlich es für demokratischen Staaten ist, sich von Diktaturen abhängig zu machen.
So stellte sich auch der Zusammenbruch des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ 1806, im Zuge der Napoleonischen Eroberungskriege, im Nachhinein als Befreiung heraus: von überkommenen feudalen Strukturen, welche die Entwicklung verhindert hatten. Und in der Niederlage entfaltete sich in Preußen ein bis dahin nie gekannter Reformgeist, der auch die deutsche Sprache prägte und ihr den Weltruhm als „Sprache der Philosophie“ einbrachte.
Vor solchem historisch-politischem Hintergrund sind politische und kulturelle Bewegungen zu betrachten, egal welcher weltanschaulichen Couleur - auch die Gendern-Bewegung.
Es geht in Krisenzeiten um rationale Abwägung von Bedrohung und Chancen, aber auch um gesellschaftliche Verantwortung:
Die Beurteilung einer Bewegung kann nicht allein nach ihrer Theorie und Praxis erfolgen.
Noch bedeutsamer ist ihre Bereitschaft, gemeinschaftsdienlich selbstzerstörerischer Polarisierung entgegenzuwirken, sich über weltanschauliche Differenzen und Interessen hinweg auf gemeinsame Verantwortung zu besinnen.
Die größte Gefahr in solchen Zeiten ist, zuzulassen, dass ein äußerer Konflikt nach innen getragen wird, die Gesellschaft spaltet und sich zu Kulturkampf auswächst.
Ein Gegner ist dabei schnell zu erkennen: Nationalistische und rechtspopulistische Parteien und Strömungen nutzen Krisenzeiten zu ihren destruktiven, demokratiefeindlichen Zwecken. Sie schüren dazu Krisenstimmung und befeuern Hysterie.
Wie aber steht es, vor dem Hintergrund aktuellen politischen Geschehens, mit der Gendern-Bewegung? Wie ist ihre Theorie, ihre Praxis einzuschätzen? Welche Entwicklung ist erkennbar? Mit welchen Folgen? Ist angesichts neuer Bedrohung und existentieller Not die Beschäftigung mit solchen „Luxusproblemen“ überhaupt noch vertretbar? Unter welchen Bedingungen?
Um es vorwegzunehmen:
Vor allem bezogen auf die aktuellen Herausforderungen erscheint die Gendern-Bewegung wie aus der Zeit gefallen.
Fragen, die gesamte Sprachgemeinschaft betreffend, werden - kaum erreichbar für die Öffentlichkeit - anhand linguistischer Detailfragen in Fachmagazinen oder Zeitungen mit Bezahlschranke erörtert, von selbsternannten „Eliten“ in Verwaltung, Medien und Universitäten. Gendern wird gegen die Bevölkerung exekutiert, statt mit ihr diskutiert.
Die Auseinandersetzung mit diesem Problem ist geprägt von massiv polarisierenden, elitär-undemokratischen Verhaltensweisen - als lebten wir noch im frühen 18. Jahrhundert.
Spaltung der Gesellschaft, von „rechts“ gezielt betrieben, erfolgt auch durch die Gendern-Bewegung, wenn auch oft eher unbewusst. Dabei hat sie doch „Gendergerechtigkeit“ und „Achtung von Minderheiten“ auf ihre Fahnen geschrieben.
Sie ist geprägt von einem inneren Widerspruch: zwischen Selbstbild, Theorie und Praxis.
Dieser resultiert zuerst aus der Überbewertung von „Sprache“, Folge dezisionistischer Setzung statt seriöser Recherche: Man sieht sie als allein konstitutiv für das Denken an. Und man glaubt, wünschbare emanzipatorische Ziele durch Sprach-„Revolution“ schneller erreichen zu können als durch mühsame Kämpfe in der Realität.
Dies wiederum mündet in eine noch fragwürdigere Praxis: Zu gern nimmt man das Selbstbild für bare Münze, vermittelt es doch das erhebende Gefühl, einer Avantgarde anzugehören. Reales historisches Wirken resultiert aber nicht aus dem Selbstbild, dafür entscheidend sind Validität und Nachhaltigkeit, sowie die Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Die folgenden Darlegungen verstehen sich als Essay in der Tradition der Aufklärung, welche wissenschaftliche Ansätze in eine freie und persönliche Auseinandersetzung integriert.
Hauptanliegen dieses Essays ist, eine Basis zu schaffen, um Fehlentwicklungen, verursacht durch die Gendern-Bewegung, vor dem Hintergrund der „Zeitenwende“ sachlich zu erörtern.
Dazu sind auch linguistische Analysen notwendig. Anders als in der üblichen, akademisch geprägten Diskussion bleiben sie aber nicht Selbstzweck, verlieren sich nicht in Detailanalysen. Sie werden integriert in politische und sozialpsychologische Zusammenhänge und vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen perspektivisch erörtert.
Als Kontrast und Orientierungshilfe werden positive Menschenbilder, Forschungsergebnisse und Konzepte gegenübergestellt. Ältere Belege und wissenschaftliche Analysen sind meist in Fußnoten eingefügt.
Eine breitere Auseinandersetzung mit linguistischen Detailfragen ist in diesem Rahmen allerdings nicht möglich. Es sei aber auf weitere Analysen durch den Autor dieses Essays hingewiesen, die mit aller notwendigen Differenziertheit erfolgt sind. 1
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht in diesem Essay an keiner Stelle darum, das von der Gendern-Bewegung vorgegebene Ziel der „Gendergerechtigkeit“ in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil. Es geht ausschließlich darum, fragwürdige theoretische Vorgaben aufzuzeigen und eine Praxis zu kritisieren, die dieses Ziel nicht nur verfehlen muss, die vielmehr seiner Realisierung in der Realität eher entgegensteht.
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1 Auf der Website von Werner Engelmann (erreichbar über Name + FR-Kommentare) finden sich neben einer Kurzanalyse („Zum Problem des Genderns und zu nachhaltiger sowie falsch verstandener Sprachentwicklung“, 6.6.2021) u.a. ausführliche Analysen zu folgenden Themen:
- Die feministische Linguistik der Luise Pusch
- Identitäre Ideologie und "Sichtbarkeit" in der Gendern-Bewegung - Ideologiekritische politische Analyse
- Gendern, "politisch korrekte Sprache" und Moral - Zum Gendern-Promotor Anatol Stefanowitsch als Moralisten