Werner Engelmann
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Identitäre Ideologie und "Sichtbarkeit" in der Gendern-Bewegung
Ideologiekritische politische Analyse

 

Teil 1

 

 

4


I. Ideologiekritische Analyse:


Gendern-Bewegung, "identitäres" Bewusstsein

und "Recht auf Sichtbarkeit"

 

 


1. Rechte und "linke" Identitätspolitik

 


In einem bemerkenswerten Interview weist Wolfgang Thierse auf den Zusammenhang der
Gendern-Bewegung mit "linkem" Verständnis von "Identitätspolitik" hin. 1


Er spricht von Verdächtigungen des "Rassismus" gegen Kritiker dieses Konzepts. Und diese stehen im
Zusammenhang mit der Übernahme von Konzepten des "Cancel Culture", welche in den USA bereits
zu einer Verschärfung der Spaltung in der Gesellschaft geführt haben.
Und er verweist als Beispiel auf die Kontroverse um die Übersetzung des Gedichts "The Hill We
Climb"
, vorgetragen von der schwarzen Bürgerrechtlerin Amanda Gorman bei der Amtseinführung
von US-Präsident Biden am 20. 1. 2021. Diese war von der niederländischen "Mode- und
Kulturaktivistin" Janice Deul ausgelöst worden, die der vom Verlag beauftragten Übersetzerin als
"weißer, nichtbinärer Person" die Fähigkeit absprach, sich angemessen in die schwarze
Bürgerrechtlerin hineinversetzen zu können.


Damit wird nach Wolfgang Thierse auch eine lange kulturelle Tradition in Frage gestellt, die solche
Fähigkeit der Empathie pflegt und sie als notwendige Voraussetzung für Kultur erachtet:
"Ohne Aneignung von Fremdem gibt es keine Kultur." 2


Hier ist ein Hauptgrund für die Misere der Gendern-Bewegung und damit auch ein wesentlicher
Punkt für diese Analyse angesprochen: Denn die vermeintlich "linke" Version von "identitärem"
Selbst- und Politikverständnis orientiert sich an extremen Formen kultureller Auseinandersetzung
mit rassistischem Hintergrund in den USA und überträgt diese kritiklos auf deutsche Verhältnisse.
Vermeintlich sich scharf abgrenzend gegen jede Form des "Rassismus", spiegeln sich in "linker"
Identitätspolitik in fataler Weise, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, auch Denkweisen rechten
"identitären" Selbstverständnisses wider.


Denn statt individuellen Bedingungen für Identitätsbildung nachzugehen, bestimmen beide
Spielarten "Identität" deduktiv nach der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie oder Gruppe. Und
rechte wie "linke" Identitätspolitik arbeitet propagandistisch mit den Mitteln der Viktimisierung und
Relativierung.


Rechte "Identitäre" glauben die eigene Ethnie und die eigene "Identität" existentiell von Fremden
bedroht, sehen sich selbst als deren "Opfer". Ihr islamophober Wahn steigert sich bis zur Vision
radikaler Überfremdung des "christlichen Abendlands" durch geplanten "Bevölkerungsaustausch"
zugunsten des islamischen Kulturkreises.
"Linke" Identitätspolitik wiederum schreibt gesellschaftlichen Minderheiten per se einen Opferstatus
zu. Sie idealisiert diese in ähnlicher Weise wie es die Ideologie des "edlen Wilden" im 18. Jahrhundert
mit Eingeborenen tat.


Rechte "Identitäre" lehnen universelle Menschenrechte generell ab, sie leugnen gar eine allgemeine
Definition von Menschsein: „Der Sammelbegriff Mensch ist in seiner identitären Bedeutsamkeit nur
für die jeweiligen Völker angebracht."
3


5
Aber auch "linke" Identitäre relativieren die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte, indem sie
diese als "Produkt des westlichen Imperialismus" ansehen und daraus folgern, dass diese "nicht für
außereuropäische Ethnien und die mit eingewanderten religiösen Institutionen gelten"
könnten. 4
Für beide Ideologien wird definitorisch die Fähigkeit zu Empathie auf die jeweils eigene Gruppe
beschränkt. Die Gesellschaft wird dissoziiert in eine unbestimmte Zahl von Entitäten, die sich
abkapseln und sich emotional wie geistig gegeneinander abgrenzen.


In § 1 des Grundgesetzes ist das grundlegende Wertverständnis westlicher Demokratien verankert,
das auf der prinzipiellen Gleichheit jeglichen Menschseins beruht: "Die Würde des Menschen ist
unantastbar."

Die Gültigkeit der universalen Erklärung der Menschenrechte wird hier vorausgesetzt.


Rechte "identitäre" Ideologie unterminiert mit der Leugnung eines solchen allumfassenden
Humanismus auch die Grundlagen der Demokratie.
Doch auch "linke" Identitätspolitik gefährdet den demokratischen Zusammenhalt, indem sie
einerseits Empathie mit Minderheiten proklamiert, aber diese zugleich durch pauschale
Verdächtigung des "Rassismus" gegen "alte weiße Männer" zu politischen Zwecken missbraucht und
die Gesellschaft spaltet.


Sie wirkt damit auch zerstörerisch im Sinne einer kulturellen Tradition, die es im Sinne eines
demokratisch geprägten Humanismus anzueignen gilt. So ist auch der oben genannte Ausspruch von
Wolfgang Thierse zu verstehen: "Ohne Aneignung von Fremdem gibt es keine Kultur."


Wie sich der Schulterschluss der Gendern-Bewegung mit pseudo-linker "Identitätspolitik" konkret
im Bewusstsein von Gendern-Fans niederschlägt, sei im Folgenden an einigen Beispielen aufgezeigt,
die durch viele andere ergänzt werden könnten.


Die radikale Abkehr von universalem Denken beim Konzept der "Identitätspolitik" geißelt der
Schriftsteller und Philosoph Philipp Tingler:
"Identitätspolitik, von rechts oder links, ist die Idiotenantwort auf die Störung einer eingebildeten
Eindeutigkeit, das ausgrenzende Abstellen und Fixieren auf vermeintlich eindeutige, fixe
Besonderheiten statt auf die Universalität des Menschseins."
(Hervorhebung vom Verfasser) 5


In ähnlicher Weise hat schon 2018 Bernd Stegemann auf einen fundamentalen Widerspruch von
"Identitätspolitik" hingewiesen. Ob mit "linkem" oder "rechtem" Selbstverständnis:
"Man definiert sich über sein Anderssein, will aber zugleich nicht über dieses Anderssein definiert
werden."
6


Der Sprachwissenschaftler Prof. Peter Eisenberg verweist darauf, in welchem Maße sich die
Diskussion von der ursprünglich behaupteten Intention gelöst hat, "Gendergerechtigkeit"
herzustellen, und in plumpe ideologische Bahnen geraten ist:
"Der Genderstern habe zudem erklärtermaßen keine sprachliche bzw. grammatikalische Funktion,
sondern eine politische Funktion. Er solle eine ideologische Botschaft vermitteln, weshalb die
Forderung nach seiner Verwendung „das Einfordern einer Unterwerfungsgeste“ sei.
Er sei „ein sprachlicher Gesslerhut, mit dem signalisiert wird, dass sein Träger einer von den
Proponenten vertretenen Geschlechterideologie folgt“. "
7


6
Wie sehr der Hinweis von Prof. Peter Eisenberg zutrifft, dass es sich hier nicht mehr um ein
sprachliches, sondern um ein politisches Problem handelt und die Gendern-Bewegung eine
"Unterwerfungsgeste" einfordert, das belegt der Promotor der Gendern-Bewegung, der Linguist
Anatol Stefanowitsch selbst, der sich zum Zweck ihrer Unterstützung zu einer gezielten
Falschaussage hinreißen lässt:


Mit der Absicht, die Ursache für Ungleichbehandlung im grammatischen System der Sprache selbst
festzumachen und dies zu "belegen", behauptet er:
"Wörter, die sich ausschließlich auf Frauen beziehen, sind dagegen Feminina („Frau“, „Nonne“) und
vereinzelt Neutra (der Diminutiv „Mädchen“ oder das „Weib“)."
8


Nun genügt schon ein kurzer Blick in den Grammatik-Duden, um zu erkennen, dass der Diminutiv mit
dem Bezug auf Männer oder Frauen nicht das geringste zu tun hat. Denn das grammatische
Geschlecht als Neutrum wird ausschließlich durch die Nachsilbe -chen oder -lein bestimmt, wie
Vergleichsbeispiele wie "das Männchen" oder "das Männlein" eindeutig belegen.


Es kennzeichnet die Arroganz, mit der ein bekannter Linguist meint, irgendwelche Behauptungen als
"Wahrheiten" verkaufen zu können und dabei sein eigenes Renommee aufs Spiel setzt.
Denn dass ein Linguist die Grammatik und die Fakten kennt, kann wohl vorausgesetzt werden.


Noch schlimmer treiben es die "Beratenden" in Sachen "Gender-Sensibilität" auf der Plattform
"gendern.de": Diese zählen in ihrer radikalen "Reform"-Wut 4.492 Wörter auf, die definitiv aus der
deutschen Sprache zu eliminieren seien. So machen sie auch "Agenten", "Wirten" oder
"Staatsbürgern" den Garaus. Im "größten Wörterbuch für eine gendergerechte Sprache" hätten nur
noch so "sensible" Begriffe wie "Engagementvermittelnde", "Gaststättebetreibende" oder
"Staatsbürgerschaftsinhabende" eine Existenzberechtigung.


Einen Einblick in den Bewusstseinsstand eines Teils aktueller "Feministen" - keineswegs nur
weiblichen Geschlechts - erlaubt die Journalistin Antje Schrupp, die auf ihrer Website "frei zu sein,
dem eigenen Begehren zu folgen"
als wesentliche Motive auf ihrem Weg zum "Feminismus" nennt.
In einer Diskussion Pro und Kontra mit der Sprachwissenschaftlerin Ewa Trutkowski reicht ihre
"Freiheit" allerdings gerade noch so weit, in peinlicher Weise die klischeehaftesten "Argumente" von
Luise Pusch aufzuzählen: Von den 10 Geboten und dem Verbot zu "begehren deines nächsten Weib",
der Behauptung vom "Weiblichen" als der "Abweichung", vom angeblichen weiblichen bloß
"Mitgemeint"-Sein bis zu den "männlich" kodierten "99 Sängerinnen und einem Sänger" - ein
Beispiel, das ob seiner ungeheuren praktischen Relevanz offenbar unausrottbar ist. Und letztlich darf
die von Schadenfreude erfüllte Genugtuung nicht fehlen, dass es nun endlich "auch dem generischen
Maskulinum an den Kragen geht".
9


Wie wenig Gendern-Fans das vorgeschobene Ziel vom "gendersensiblen" Sprechen wirklich
interessiert, das wird am deutlichsten bei Stellungnahmen vom "Arbeitskreis Sprache des
Kommunikationszentrums für Frauen zur Arbeits- und Lebenssituation" (Kofra)
in München.
Unumwunden wird eingestanden:
"Aber hier geht's nicht um Grammatik, sondern um Macht."
Zur Begründung wird die "Verurteilung der letzten "Hexe" in Deutschland" vor "knapp 250 Jahren"
beschworen, dann als Movens auf "mehr oder weniger nackte Frauen auf Werbeplakaten in
Spitzenunterwäsche"
und verschiedene andere Beispiele realer Benachteiligung von Frauen
verwiesen. All das aber soll durch feministische "Macht" der Sprache beseitigt werden. Denn "Göttin
sei Dank kennen wir mindestens drei Linguistinnen, die seit Jahren und Jahrzehnten - in einer auch für
LaiInnen verständlichen Sprache - für eine gerechte Sprache votieren: Dr.in Luise Pusch, Prof.in Evelyn
Ferstl und Frau Dr.in Friederike Braun."
10


7
Zuletzt sei eine namentlich nicht genannte Professorin zitiert, deren Bericht eine Ahnung von der
Kulturkampfatmosphäre vermittelt, in die Gendern-Aktivisten und -Aktivistinnen die Gesellschaft zu
führen gedenken: 11
Auch für sie zog mit Luise Puschs „Das Deutsche als Männersprache“ das Gendern in ihr Leben ein
und bestimmte es fortan: "als Doktorandin, Lehrende, Freundin, Partnerin, Mutter".
Sie beteiligte sich aktiv als "Trendsetzende" an der Humboldt-Universität Berlin, mit der Forderung,
dass "Universitäten mehr als bisher zu intellektuellen Wegbereiterinnen avancieren", um "Hörsäle
und Seminarräume zu diskriminierungsfreien Räumen umzugestalten und sprachliche Diskriminierung
an und aus Unis heraus konsequent kritisch zu unterwandern."

Dazu braucht sie allerdings ein Feindbild: Menschen, die ihre forschen Ansichten nicht teilen, können
sich nach ihrem Weltbild nur am Motto zu orientieren: „Das muss so bleiben, weil es immer so war“.
Sie unterstellt ihnen pauschal, "aus persönlich motivierten Ressentiments und aus der Angst vor dem
Teilen von Privilegien und Macht heraus massive Widerstände"
aufzubauen.
Und die hier erkennbare Kulturkampfszenerie wird mit einer schön klingenden Maxime garniert:
"Die Freiheit einer Gesellschaft muss sich immer daran messen lassen, wie sie mit Interessen von
Minderheiten und Rechten von Diskriminierten umgeht."


In den folgenden Analysen wird u.a. aufgezeigt werden, wie es seitens der Gendern-Aktivisten mit
dem Umgang mit "Rechten von Diskriminierten" tatsächlich bestellt ist: die für Verschleierung und
Instrumentalisierung missbraucht werden und deren "Freiheit" darin besteht, sich den "weisen",
ihrer "Sichtbarmachung" dienenden Maßnahmen selbst ernannter Tutoren aus der Gendern-
Bewegung unterzuordnen.


Frappant ist hier die intellektuelle Arroganz, mit der unausgewiesen, allein qua Zugehörigkeit zur
Gendern-Bewegung, gesellschaftlicher Führungsanspruch reklamiert wird.
Dies erlaubt selbstgerecht zu verdrängen, wie abgehoben von der gesellschaftlichen Realität
diskutiert und gehandelt, verächtlich auf nicht-intellektuelle Kreise herabgesehen wird, wie sie
bevormundet und wie Andersdenkende abgeurteilt werden.


Und schlimmer noch zu beobachten, wie kritiklos gleichzeitig Behauptungen von Luise Pusch als
quasi neue "Offenbarung" aufgesaugt werden und wie jeglicher selbstkritische Ansatz fehlt.
Die Fülle der Widersprüche und der weitgehend pamphletartige Charakter der Aufsatzsammlung
Luise Puschs sind hier im Teil "Die feministische Linguistik der Luise Pusch" bereits analysiert worden.


Die Frau Professorin sei daran erinnert, dass nur wenige Schritte von ihrer ehemaligen
Wirkungsstätte entfernt, auf dem Opernplatz in Berlin, am 10. Mai 1933 eine wahrhaft schaurige
Veranstaltung stattgefunden hat: die Verbrennung von Schriften von Autoren, die dem Verdikt einer
"Bewegung" anheim gefallen waren, welche allein den "richtigen" Weg in die Zukunft zu kennen
glaubte. Durchgeführt von Studenten - Intellektuelle auch sie, von ihrer "historischen Mission"
überzeugt auch sie.


Es versteht sich, dass damit keine Gleichsetzung intendiert ist.
Beunruhigend ist aber der elitäre Führungsanspruch, mit dem das eigene Weltbild gehegt und
überhöht wird, man sich zugleich selbstgerecht von "Ressentiments" der "anderen" abgrenzt.
Dies erscheint als geistiger Rückfall in realitätsabgehobene verbale Radikalität der 70er Jahre des
letzten Jahrhunderts, welche Wortführer der Studentenbewegung längst überwunden haben.


8
Grund genug, diese Positionen einer gründlichen und kritischen Überprüfung zu unterziehen.


In diesem Zusammenhang wird im Folgenden auch der von der Gendern-Bewegung als
selbstverständlich angenommene Anspruch als vermeintlich "legitime" Nachfolgerin der
Frauenbewegung mit deren unzweifelhaften Verdiensten zu überprüfen sein. Und es wird des
weiteren der hier erkennbare Rückfall in Geschlechterkampf-Kategorien zu thematisieren sein.
Darüber hinaus stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Ursachen der eingangs
beschriebenen "identitären" Ideologien und den fatalen Wirkungen ihrer Symbiose mit der Gendern-
Bewegung. Das erste würde allerdings den Rahmen dieser Analyse sprengen. Auf Letzteres wird im
Folgenden punktuell eingegangen.


Festzuhalten ist, dass eine Bewertung der einzelnen Eingriffe in das Sprachsystem nicht losgelöst von
dieser politischen Einschätzung erfolgen kann.


Insbesondere in den zu beobachtenden sprachlichen Exzessen spiegelt sich die schon bei Luise Pusch
beobachtete Selbstüberhebung wieder, welche "die deutsche Sprache" als vermeintlich psychisch
Kranke an die Couch fesselt, um sich selbst in der Rolle des überlegenen "Therapeuten" oder der
"Therapeutin" erleben zu können.
Und es sei daran erinnert, dass dieses überhebliche Bild und Selbstbild von Luise Pusch selbst
stammt, bei ihr mehrfach durchscheint und sogar im Untertitel des Hauptaufsatzes ihrer Sammlung
Eingang findet. 12


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Anmerkungen:


1 W. Thierse: "Wir haben einen Teil der Arbeiterschaft schon verloren", https://youtu.be/mrMj8_qmRdc
Nähere Ausführungen und Interpretationen dazu finden sich auf der Website von Werner Engelmann
(Google, Stichwort: FR-Kommentare) in der Rubrik "FR-Diskussionen: Gendern und der Umgang damit",
in einer längeren Diskussion mit Martin Dietze; "Diskussion über den Umgang mit Robert Habeck", 23.4. -
21.5.2021, Untertitel "Zu 'linker' Identitätspolitik", 26.4.21 - 2.5.21.
2 Ebd.
3 Ines Aftenberger: Die ‚identitäre‘ Beseitigung des Anderen. Der gar nicht mehr so neue Neorassismus der
‚Identitären‘. In: Judith Goetz, Joseph Maria Sedlacek, Alexander Winkler (Hrsg.): Untergangster des
Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremen ‚Identitären‘. 2. Auflage. Marta Press, Hamburg
2018, S. 208.
4 https://taz.de/Identitaere-Linke-und-rechte-Hegemonie/!5516407/
5 https://www.perlentaucher.de/9punkt/2020-07-22.html, 22.7.2020
6 Bernd Stegemann, Die Moralfalle: Für eine Befreiung linker Politik, Berlin 2018
7 http://renovatio.org/2021/01/peter-eisenberg-die-zerstoerung-der-sprache-durch-die-gender-ideologie/,
8.1.2021
8 https://www.tagesspiegel.de/wissen/geschlechtergerechte-sprache-nuetzliche-sternchen-brauchen-keineamtshilfe/
22646438.html
9 https://www.indeon.de/gesellschaft/pro-con-gendersprache, 26.10.2020
10 https://www.sueddeutsche.de/kolumne/gerechte-sprache-wir-gendern-nicht-zum-spass-1.3424324
11 https://www.tagesspiegel.de/wissen/geschlechtergerechte-sprache-das-versprechen-desgendersternchens/
22929284.html, 21.08.2018
12 Das Deutsche als Männersprache, a.a.O., S. 46
Hier ist in Bezug auf das deutsche Sprachsystem wörtlich von "Diagnose und Therapievorschläge" die
Rede.

 

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9
2. "Identitäres" Selbstverständnis in der "feministischen Linguistik"

 

 


Aus der Analyse "identitärer" Ideologie ergibt sich die Frage, in welcher Weise diese mit der
Gendern-Bewegung verknüpft ist: als bloßer äußerer "Zusatz" zu sprachlichen Experimenten oder als
integrativer Bestandteil derselben.
Dies erfordert eine ideologiekritische Analyse der Widersprüche in der Gendern-Bewegung selbst,
also der theoretischen und methodischen Vorgaben durch ihre Initiatoren.


In welcher Weise die genannte Frage zu beantworten sein wird, lässt sich schnell erahnen.
Denn Zentralbegriffe "identitärer" Ideologie finden sich sowohl bei Luise Pusch, mit dem Begriff
"Identifiziertwerden", als auch bei Anatol Stefanowitsch, der daraus ein vermeintliches "Recht auf
Sichtbarkeit" ableitet.


So äußert sich Luise Pusch zum Zusammenhang von Sprache und "Identität" im 1. Aufsatz der
Sammlung "Das Deutsche als Männersprache" unter dem Kapitel "Wahrgenommenwerden",
Beachtetwerden, Identifiziertwerden und Gemeintsein"
1, unter Bezug auf G.H. Mead:
"Identität ist das Ergebnis eines Zusammenwirkens von Identifizierungen durch andere und
Selbstidentifikation."


Und daraus folgert sie:
"Identifiziertwerden ist also die Voraussetzung zur Gewinnung einer Identität, die wiederum die
Voraussetzung für psychisches, soziales, wenn nicht sogar biologisches Überleben ist."

Hier wiederum bezieht sie sich auf eine Studie von Durkheim über "Anomie und Selbstmord" aus
dem Jahr 1897.


Es kennzeichnet die Methode von Luise Pusch, dass sie zunächst von seriösen Untersuchungen
ausgeht, sich dann aber in extreme und generalisierende Aussagen hineinsteigert, die Empörung
hervorrufen. Dabei entblößt sie ihr methodisches Vorgehen allerdings selbst.
Ohne Beschwörung der Gefahr für "biologisches Überleben" geht es bei ihr eben nicht.
Dumm nur, dass in der Studie von Durkheim, auf die sie sich dabei bezieht, von Sprache gar nicht die
Rede ist.


Auch die Definition von "Identität" erscheint nur äußerlich korrekt.
Denn Luise Pusch zweckentfremdet auch die Studien von G.H. Mead, indem sie dessen Aussagen in
einen völlig neuen Kontext stellt. Sie unterschlägt nämlich, dass Mead, wenn er einen
Zusammenhang mit "Identität" feststellt, unter "Sprache" nicht das Sprachsystem meint. Vielmehr
beschreibt er dabei die Interaktion mit anderen Menschen. Es geht bei ihm um sprachliches
Handeln. Und das ist ein grundsätzlich anderer Problembereich als der von Systemliguistik. 2


Einen ähnlichen Ansatz wie G.H. Mead verfolgt auch die Tätigkeitstheorie von A.N. und A.A. Leontjev.
Auch hier geht es nicht um "Identität" und Sprache an sich, sondern darum, wie in der
Auseinandersetzung mit der konkreten umgebenden Wirklichkeit sich bei einzelnen Individuen
sprachliche Begriffe herausbilden, die wiederum Voraussetzung für Bewusstseinsbildung sind. 3


Gerade hierbei wird ein grundlegender Denkfehler von Luise Pusch und der Gendern-Bewegung
deutlich: Sie stellen das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit auf den Kopf, indem sie meinen,
über Veränderung der Sprache die Wirklichkeit grundlegend neu gestalten zu können.


Die genauere Ausführung dieses Sachverhalts sei der späteren Analyse im Zusammenhang mit der
Untersuchung der ominösen "Assoziationsstudien" überlassen.


10
Im Sinne der Methodenkritik sei hier lediglich festgehalten, dass sich Luise Pusch zu Unrecht auf die
genannten Autoren beruft. Das Verhältnis des Menschen zur umgebenden Wirklichkeit, das nicht nur
diese Studien als das zu klärende Grundproblem erkennen, wird von ihr ja fast systematisch
ausgeblendet. Statt sich damit zu befassen, geht es ihr - und im Gefolge der Gendern-Bewegung - um
pauschalisierende Kritik am grammatischen System des Deutschen, wodurch sie wiederum den
vermeintlich notwendigen willkürlichen Eingriff zu einem "guten Zweck" zu rechtfertigen sucht.


Wie sehr Luise Pusch zum Zweck der Übertreibung und Effekthascherei extrapoliert, wird im
Folgenden deutlich:
"Bestätigung der Identität durch andere (Richtig-Identifiziertwerden) ist notwendig zur Bewahrung
und Aufrechterhaltung dieser Identität. Frauen befanden und befinden sich aber häufig in der
schizophrenogenen Lage, daß ihnen sogar die Identität 'menschliches Wesen' nicht bestätigt wurde
oder wird, (...) weil sie als Mitglieder der Spezies Mensch und anderer Gruppen, denen sie faktisch
angehören, nicht wahrgenommen werden."
4


Die Methode ist wieder deutlich erkennbar:
Luise Pusch spitzt zunächst terminologisch zu ("Richtig-Identifiziertwerden"), folgert daraus, Frauen
seien in der "Männersprache" generell "nicht gemeint" und versteigt sich schließlich zur absurden
Behauptung, sie würden nicht einmal "als Mitglieder der Spezies Mensch (...) wahrgenommen".
Für all dies nun macht sie "die deutsche Sprache" als "Männersprache" verantwortlich.

Kurz gesagt:
Diese ist für den Zweck der "feministischen Linguistik" der ideale Sündenbock.


So irrational das bereits klingt, selbst hierzu gibt es noch eine Steigerung.
Denn sie exemplifiziert ihre "bahnbrechenden" Erkenntnisse - so später Anatol Stefanowitsch -
ausgerechnet alttestamentarisch, nämlich an der Frauenfeindlichkeit der "10 Gebote", insbesondere
dem 10. Gebot: "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib..." .


Dass das Alte Testament aus dem Orient, einem völlig anderen Kulturkreis, entstammt, dass es
Hebräisch verfasst war, und dass zudem die deutsche Sprache erst Jahrtausende später entstand,
scheint sie bei ihrer "Argumentation" offenbar nicht zu stören.


Wenn man es versäumt, den Gegenstand seiner Forschungen präzise abzustecken, wenn man
Linguistik als einen Trick missversteht, mit dem sich, quer durch Zeiten oder Forschungsgebiete das
gerade Passende zu dem vorweg bestimmten eigenen Zweck instrumentalisieren lässt, dann nimmt
man es offenbar auch mit logischen Zusammenhängen nicht so genau.

 


Es ist müßig, solche "Argumentation", aufgebaut auf methodischer Willkür und Eklektizismus,
inhaltlich widerlegen zu wollen. Und dies erübrigt sich auch weitgehend.


Ein Hinweis auf alltägliche Erfahrungen kann dennoch hilfreich sein.
Denn Hunderttausende verantwortungsbewusster Eltern wissen, was bei der "Gewinnung einer
Identität" für ihre Kinder tatsächlich von Bedeutung ist: Vertrauen, Zusammenstehen und Toleranz
im engsten Familien- und Freundeskreis. Für die Bildung von Persönlichkeit ist dies eine notwendige
Grunderfahrung.
Diese ist mit Sicherheit nicht zu ersetzen durch "Identifiziertwerden", das eher Angst einflößt. Und
ebenso wenig kann sie durch einen Drang nach öffentlicher Selbstdarstellung kompensiert werden.
Auch auf politischer Ebene erweist sich die Behauptung, "Identifiziertwerden" sei "Voraussetzung"
für "Identität", als abwegig: Das Gegenteil ist richtig.


11
Nach dieser "Logik" hätte ja eine Bürgerrechtsbewegung wie etwa die unter Führung von Martin
Luther King
niemals entstehen können. Denn eine selbstsichere "Identität" der Akteure muss ja
bereits vorhanden sein, damit eine demokratische Bewegung von unten überhaupt aufgebaut
werden kann.
Und Martin Luther King hat gezeigt, welche realen Voraussetzungen für ihn maßgebend waren:
Erfahrungen der Unterdrückung, aus denen Mut und Entschlossenheit erwuchs, Empathie und
Solidarität mit Schwächeren, sowie klare Vorstellungen davon, was anzustreben und was erreichbar
ist.
Die bewegende Rede "I have a Dream" vom 28. August 1963, gehalten in einer Situation scharfer
Rassengegensätze in den USA, legt davon Zeugnis ab.


Nicht anders Josephine Baker, die ihren Kampfgeist aus Erfahrungen in ärmlichsten Verhältnissen
bezog, die ihre spätere öffentliche "Sichtbarkeit" mit Mut und Geschick, u.a. in der französischen
Résistance, zu nutzen wusste und die nun mit Recht als erste schwarze Frau im Ehrentempel des
Pariser "Panthéons" ruht.


Dass mit wachsendem Erfolg zunehmende "Sichtbarkeit" auch ihrerseits wieder positive
Rückwirkungen auf das eigene Selbstbewusstsein hat, das ist eine triviale Feststellung. Auf der
alleine kann aber keine grundlegende Strategie der Gesellschaftsveränderung aufgebaut werden.

 


Die Zahl der Gegenbelege ließe sich um ein Vielfaches erweitern. Das ist aber nicht Aufgabe einer
ideologiekritischen Analyse.


Hier geht es darum, grundsätzliche Irrtümer im Selbstverständnis der Gendern-Bewegung
aufzuzeigen, um das daraus resultierende Verhalten in der Praxis zu verstehen.


Zu diesen Grundirrtümern gehört auch die Verkehrung des Verhältnisses von Theorie und Praxis:
Theorie reduziert eine Vielzahl von Erscheinungsformen auf eine begrenzte Zahl von Theoremen.
Dazu abstrahiert sie von den konkreten Kontexten. Theorie ist also immer abstrakt.
Empirische Forschung ist die Voraussetzung, um auf induktivem Weg gewisse theoretische
Verallgemeinerungen vornehmen zu können. Und das erfordert in diesem Fall, die konkreten
Lebensumstände der jeweiligen Individuen heranzuziehen. Ihr konkretes Handeln lässt sich aber
nicht deduktiv aus einer abstrakten, verallgemeinernden Theorie (in dem Fall eine allgemeine
psychologische Erkenntnis) ableiten.


Dementsprechend ist Psychologie prinzipiell auf individuelle Personen gerichtet. Sie kann und will
Aussagen nur in dem Maße treffen, als valide Erkenntnisse über die jeweiligen individuellen
Lebensumstände vorliegen. Und kein Psychotherapeut käme auf die Idee, in der von Luise Pusch
anvisierten Weise, also ex cathedra Maßnahmen zur "Gewinnung einer Identität" zu verordnen. Mit
Hilfe der Psychoanalyse kann er dem Patienten nur helfen, Wege für sich selbst zu finden.


In einer solchen Verkehrung von Theorie und Praxis, im Irrglauben, Aussagen über konkretes
Handeln von Individuen deduktiv aus einer a priori vorgenommenen Begriffsbestimmung ableiten
zu können, zeigen sich Ansätze eines fundamentalistisch verfestigten ideologischen Denkens.
Ideologie, als geschlossenes Sinnsystem zur Erklärung der Welt, ähnelt aber in fataler Weise einer
Religion, kann auch als eine Art Religionsersatz dienen.


Wie Religion lässt auch Ideologie kein selbstkritisches Hinterfragen des eigenen Ansatzes zu. Und
wer sich nur innerhalb der eigenen Denkblase bewegt, ist dazu auch nicht in der Lage. Erst muss die
Denkblase von außen durchstoßen werden.


12
Eben dies ist die Aufgabe einer ideologiekritischen Analyse der vorliegenden Art, welche
ideologisches Denken mit den eigenen Prämissen konfrontiert, um darauf aufbauend Ursachen der
Diskrepanz zum realen Sein aufzuzeigen und zu analysieren.


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Anmerkungen:


1 Das Deutsche als Männersprache, S. 23-25
2 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. 8. Auflage. Frankfurt 1995, S. 78.
3 A.N. Leontjev, Probleme der Entwicklung des Psychischen, Berlin (Volk und Wissen), 1973
4 Das Deutsche als Männersprache, S.24 f.
In der Analyse "Die feministische Linguistik der Luise Pusch", Teil 1, wird die durchgehende Polemik in
diesem Aufsatz aufgezeigt und auf den von Wolfgang Thierse benannten Zusammenhang mit der
"Identitäts"-Debatte verwiesen.

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13


3. Permanente öffentliche "Sichtbarkeit" als höherrangiges "Recht"?

 

 


Der vorgenannte Ideologieverdacht bestätigt sich auch beim Bewunderer von Luise Pusch und
Promotor der Gendern-Bewegung, dem Linguisten und Anglisten Anatol Stefanowitsch.


Er fühlt sich - fast 40 Jahre später - als Exekutor der Forderung nach voluntaristisch vorgenommener,
radikaler "Sprachveränderung" durch Luise Pusch, welche diese in dem für ihn "bahnbrechenden
Aufsatz"
erhebt.


Bei diesem Impetus sieht er sich nun von der Schriftstellerin Nele Pollatschek herausgefordert, die
konsequent einen Hauptwiderspruch der Gendern-Bewegung aufzeigt, den zwischen Anspruch und
Praxis: "Gendern ist eine sexistische Praxis, deren Ziel es ist, Sexismus zu bekämpfen." 1


Und Stefanowitsch meint, diesen Widerspruch dadurch zu beseitigen, indem er die problematischen
Äußerungen von Luise Pusch über "Identität" sogar noch zu einem "Recht auf Sichtbarkeit"
aufbauscht.


Die "Beweisführung" dafür ist aufschlussreich und symptomatisch zugleich.
Zunächst muss Stefanowitsch nämlich Nele Pollatschek beipflichten:
Denn, so muss er zugeben, "aus der Wertvorstellung einer Gesellschaft, in der das Geschlecht keinen
Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung einer Person haben darf, ergibt sich ein Recht auf
geschlechtsneutrale Formen."
2


Als Linguist bei seiner Beweisführung in Bedrängnis, behilft sich Stefanowitsch - auch hier der
eklektischen Methodik Luise Puschs treu 3 - nun mit Ausflügen auf außerlinguistisches Gebiet:
Zunächst führt er "Studien" von Psycholinguistinnen an, die zeigen sollten, "dass maskuline
Personenbezeichnungen tatsächlich vorrangig männlich interpretiert werden, ganz egal, ob sie
generisch gemeint sind oder nicht."
4


Ist diese Argumentation soweit noch nachvollziehbar, so macht doch höchst misstrauisch, dass sie
von Gendern-Befürwortern - als offenbar einzige rational erscheinende Begründung - unentwegt und
zugleich ohne konkrete Hinweise angebracht wird. Das heißt, sie ist zum Totschlagargument
avanciert, das jegliche weitere Diskussion ersparen soll.


Wie weit diese Interpretation tatsächlich stimmig ist und - vor allem - ob der genannte Befund für
das reale Handeln der genannten Personen überhaupt von Bedeutung ist, das sei einer weiteren
Analyse zur Aussagekraft der Assoziationsstudien überlassen.


Die Dürftigkeit dieser "Begründung" ahnend, wagt sich Stefanowitsch also auf historisches sowie
juristisches Gebiet vor, wobei er sich selbst als ernst zu nehmender Wissenschaftler desavouiert.
Denn in apodiktischer Weise behauptet er:
"Allerdings muss dieses Recht (auf geschlechtsneutrale Formen) gegen das Recht auf Sichtbarkeit
abgewogen werden."


Nun wird man einem Wissenschaftler unterstellen dürfen, dass er Folgendes weiß:
Diese "Wertvorstellung einer Gesellschaft", wie er nebulös formuliert, auf der nach seiner eigenen
Aussage das "Recht auf geschlechtsneutrale Formen" gründet - das meint nichts anderes als das
Gleichheits-Postulat: ein grundlegendes Menschenrecht, verankert in der Allgemeinen
Menschenrechtserklärung der UN und dem Grundgesetz (Art. 3,1), hier sogar mit Ewigkeitswert.

14

Und - bezogen auf die Frage öffentlicher "Sichtbarkeit" - ist dies des weiteren in Art. 5, Absatz 1 des
Grundgesetzes präzisiert: Danach wird jedem, ohne Ansehen der Person, das Recht zugebilligt, "seine
Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten".


"Recht auf Sichtbarkeit" - ein höherrangiges "Recht" als das Gleichheits-Postulat der Universellen
Erklärung der Menschenrechte?


Wird hier vielleicht versucht, ein grundlegendes Menschenrecht zu relativierten, gar einer Praxis
unterzuordnen, das eigene Geschlecht in jedem nur denkbaren Kontext demonstrativ öffentlich
"sichtbar" zu machen? Und all das im Namen eines subjektiv "erfühlten", ominösen "Rechts auf
Sichtbarkeit"
des Geschlechts?


Bei einem solchen Verdacht wird offenbar auch Herrn Stefanowitsch bange.
Da kommt - vermeintlich - ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (vom 8. 11.2017) über die
Anerkennung des "dritten Geschlechts" im Personenstandsgesetz (PStG, § 22, Abs. 3) zu Hilfe.
Danach wird die zwangsweise Kennzeichnung von Menschen "binären Geschlechts" als Mann oder
Frau als Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot (nach Art. 3, Abs. 3, GG) gekennzeichnet.
Zu berücksichtigen ist freilich, dass sich dieses Urteil, als Konkretisierung des Gleichheits-Postulats,
ausschließlich auf amtliche Dokumente wie etwa Pässe bezieht. 5


Ein Tiefschlag für die Gendern-Bewegung, sollte man meinen. Denn die insistiert gerade auf solch
binärer Geschlechtszuordnung. Sie versucht sogar, weit darüber hinausgehend, die Dualität der
Geschlechter zum Grundprinzip einer "revolutionären" allgemeinen Sprachregelung zu erheben -
nach Nele Pollatschek also: "sexistische Praxis" noch auszuweiten und zu verallgemeinern.


Eine solche voreilige Wertung übersieht aber einen Punkt: Mit scholastischer "Beweisführung" lässt
sich jede Aussage, auch die Intention dieses Urteils, ins gerade Gegenteil verkehren.
Es gibt demnach ausreichend Veranlassung, diese "Beweisführung" genauer unter die Lupe zu
nehmen.


Ihr Kern besteht darin, die genannte kleine Minderheit von "binären Menschen" für eigene Zwecke
zu instrumentalisieren:
"Eine dritte Gruppe war sprachlich komplett unsichtbar und ist erst durch das Sternchen in
'Vertreter*in' sichtbar geworden: nicht-binäre Menschen, also diejenigen, die sich nicht in die
Kategorien Mann und Frau einordnen können oder wollen. (...)
Für diese Gruppe ist Sichtbarkeit die Voraussetzung, um überhaupt am gesellschaftlichen Diskurs
teilzunehmen. Dass sie dabei ihre geschlechtliche Identität auch dort zum Thema machen, wo sie
keine Rolle spielen sollte, ist für die*den Einzelne*n sicher oft unangenehm, es ist aber Teil genau der
gesellschaftlichen Wahrnehmung, die erreicht werden soll."
6


Hier werden unterschiedliche Behauptungen und Aussagen derart miteinander vermengt, dass
weder ihre Begründung noch ihre Relevanz erkennbar werden.


Es gilt also, zur Bewertung die Aussagen bzw. Behauptungen einzeln aufzuschlüsseln:
(a)
Stefanowitsch geht von der - historisch abstrusen - Behauptung aus, dass die Gruppe der "nichtbinären
Menschen"
durch die Gendern-Bewegung erstmals überhaupt gesellschaftlich "sichtbar",
d.h. als Minderheit wahrnehmbar wird, indem sie - in jeglichem öffentlichen Diskurs erkennbar -
sprachlich markiert wird, und zwar durch ein "Sternchen" (!) (Satz 1)

15

(b)
DieFrage, ob diese "Gruppe" überhaupt in der Weise öffentlich "sichtbar" gemacht werden will, wird
nicht einmal ansatzweise thematisiert. Die Gendern-Bewegung, der es allein um deren Wohl gehe,
wird definitorisch als legitime Sprecherin für diese Minderheit eingesetzt. (Satz 1).
(c)
Zur Rechtfertigung wird die Behauptung von Luise Pusch über "Sichtbarkeit" als "Voraussetzung für
Gewinnung einer Identität"
zu einer angeblich unumstößlichen soziologischen Tatsache
transformiert. (Satz 2: "Voraussetzung" für Teilnahme am "gesellschaftlichen Diskurs")
(d)
Die Intention, die eigene "geschlechtliche Identität" immer und überall zu thematisieren, auch da,
"wo sie keine Rolle spielen sollte", wird von ihm, im Namen der Akteure der Gendern-Bewegung, auf
diese Minderheit projiziert. Aus der juristischen Anerkennung des "3. Geschlechts" durch das BVerfG
wird expressis verbis für jeden einzelnen aus dieser Gruppe ein genereller Zwang, in seiner
Geschlechtlichkeit markiert und so öffentlich "sichtbar" gemacht zu werden. (Satz 3, 1. Halbsatz)
(e)
Der geahnte Widerspruch von "Einzelne*n" wird mit dem "Argument" beiseite gefegt, dass diese sich
einem ominösen "allgemeinen Willen" unterzuordnen haben. Dabei wird dieser nur assoziativ im
Verschleierungs-Passiv (!) angedeutet. Das wirkliche Subjekt, also der Urheber dessen, was "erreicht
werden soll", ist dabei nicht auszumachen. Aus dem Kontext heraus wird suggeriert, dass die
genannte "Gruppe" einer Minderheit selbst dahinter steht. (Satz 3, 2. und 3. Halbsatz)


Erschreckend ist, wie hier (a) instinktlos historische Erfahrungen negiert werden, (b) ein
Außenstehender sich anmaßt, über den Weg von Minderheiten zu ihrem "Glück" zu befinden,
(c) verallgemeinernde Behauptungen und Tatsachen vermengt werden, (d) eigene Verantwortung
auf eine Minderheit abgeschoben wird, hinter der man sich versteckt.


Und zu allem Überfluss blitzt auch noch - in verschleierter Weise - (e) die Vorstellung einer
geheimnisvollen "volonté générale" im Sinne Rousseaus auf.

Diese Vorstellung Rousseaus hat nun bereits im Terror der französischen Revolution auf fatale Weise
totalitären Geist erkennen lassen. Und sie taucht auch heute immer wieder in Forderungen meist
extrem rechter Kreise nach "direkter Demokratie" auf - mit der erkennbaren Absicht, über die
Selbstermächtigung "des Volks", in allen gesellschaftlichen Fragen unmittelbar und allein zu
befinden, rechtsstaatliche Sicherungen in Form demokratischer Gewaltenteilung zu beseitigen.


In welchem Maße die Wortakrobatik eines Anatol Stefanowitsch als zynisch und die
Selbstermächtigung der Gendern-Bewegung als Tutoren für "Diskriminierte" als zusätzlich
diskriminiernd empfunden werden kann, das macht eine Vielzahl von Wortmeldungen eines Users
der FR deutlich, der sich als "Linker" und "Teil der LGBTQ+ Community" bekennt:
Er fühlt sich zum "Sündenbock vor dem Rechten Mob" gestempelt. Er entlarvt den angeblichen
Einsatz der Gendern-Bewegung für die "Rechte von Diskriminierten" als heuchlerisch und als andere
Form der "Diskriminierung".
Und zum vermeintlich beglückenden "Recht auf Sichtbarkeit" fällt ihm nur bitterer Sarkasmus ein:
"Sichtbar" waren auch die Juden im dritten Reich.(...)" 7


Es sei nicht verschwiegen, dass Stefanowitsch im Anschluss an diese unfassbaren Äußerungen sich
davon wieder zu distanzieren versucht, indem er schein-"liberal" dazu aufruft, "es dem freien Spiel
der Kräfte" zu überlassen, "welche Formen sich am Ende durchsetzen"
.8

 

16
Eine Erklärung, die aber schon deshalb unglaubwürdig ist, weil derselbe Anatol Stefanowitsch nahezu
zeitgleich auf einer Tagung von Ver.di erklärte, nun sei es Zeit, "Vorschriften zu erlassen". Wobei er
es sich nicht nehmen ließ, zugleich Kritikern pauschal zu unterstellen, „bei den meisten steckt
Frauenfeindlichkeit dahinter“.
9

 


Als Fazit dieses Teils der Analyse sei festgehalten:


- "Sichtbarkeit" in einem demokratischen Staat realisiert sich in freier und selbstbestimmter
Wahrnehmung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung
in der Gesellschaft, aber ganz sicher
nicht durch zwangsweise "stellvertretende" sprachliche Markierung von Menschen mit einem
Sternchen.


- Art.1, Abs.1 GG bestimmt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Geschlechtliche "Identität" ist Teil dieser Menschenwürde. Ob und in welchem Maße jemand - ob
Angehöriger einer Minderheit oder nicht - in der Öffentlichkeit "sichtbar" werden will, ist einzig und
allein dessen individuelle und freie Entscheidung.


- Wenn es ein "Recht auf Sichtbarkeit" gäbe, dann gäbe es auch ein "Recht auf Unsichtbarkeit" -
zumindest für Menschen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Es ist niemandes "Recht", über die
"Sichtbarkeit" anderer Menschen, einschließlich deren Geschlechtszugehörigkeit, zu verfügen.
Denn,
so Nele Pollatschek:
"Mein Geschlecht gehört mir. Nicht der Öffentlichkeit, nicht meinem Arbeitgeber." 10
Dem wäre lediglich hinzuzufügen: Es gehört auch nicht Herrn Stefanowitsch oder der Gendern-
Bewegung.

 


Nun ist das Fazit, was die widersprüchliche und logisch unhaltbare Fundierung der Gendern-
Bewegung angeht, ziemlich eindeutig. Die Frage ist aber, was eine solche Analyse in der Realität
bewirken kann.


Unsere "Informationsgesellschaft" ist von Tendenzen durchsetzt, Wissenschaft per se zu misstrauen
und rationale Erwägungen durch Bauchgefühle zu ersetzen.
Wie hier aufgezeigt wurde, ist auch die Gendern-Bewegung mit doktrinärem "identitärem"
Politikverständnis verbunden.


Hieraus ergibt sich weiter die Frage, welche Bedeutung der oft mit missionarischem Impetus
vorgebrachten Begründung mit "Geschlechtergerechtigkeit" überhaupt zukommt.


Ist diese Bekundung überhaupt ernst zu nehmen? Oder sind nicht eher vorausgehende
Bauchentscheidungen maßgebend, die rational kaum erreichbar sind, die, um glaubwürdig zu
erscheinen, durch den moralisierenden Hinweis nachträglich rationalisiert werden?


Die vorgenannten Indizien sprechen eindeutig dafür, dass eher Letzteres zutrifft.
Dies erklärt auch die vielfach festzustellende Tendenz von Gendern-Befürwortern, sich einer
Diskussion zu entziehen.


Eine rein linguistische Argumentation, wie sie gegenwärtig fast ausschließlich den öffentlichen
Diskurs bestimmt, ist zu kurz gegriffen und nicht geeignet zu überzeugen. Sie muss eingebettet
werden in eine politische Analyse
der genannten Art. Nur so kann der gesamtgesellschaftliche
Kontext aufgezeigt und kann offensichtlichen Fehlentwicklungen wirksam entgegen getreten
werden.


17
Zu diesem Zweck ist auch ein historischer Vergleich unter dem Aspekt von Kultur- und
Sozialgeschichte sinnvoll. (Teil 2)
Und eine Auseinandersetzung mit Grundthesen der soziologischen Analyse von Jürgen Habermas,
"Strukturwandel der Öffentlichkeit"
erlaubt eine Einordnung in Tendenzen der Gegenwart in einem
breiteren Rahmen. (Teil 3)


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Anmerkungen:


1 https://www.tagesspiegel.de/kultur/deutschland-ist-besessen-von-genitalien-gendern-macht-diediskriminierung-
nur-noch-schlimmer/26140402.html
2 Stefanowitsch, https://www.tagesspiegel.de/wissen/warum-sprachwandel-notwendig-ist-der-professordie-
professor-das-professor/26155414.html, 03.09.2020
3 Aufschlussreich ist auch ein durchaus ähnlicher, diskreditierender Umgang mit fachlichen Kontrahenten.
So scheut er, der ja dauernder femininer "Sichtbarkeit" das Wort redet, sich nicht, in krassem Widerspruch
dazu Nele Pollatschek mit "der Schriftsteller" anzusprechen - wohl wissend, dass er über eine Frau redet.
4 Stefanowitsch, a.a.O.
5 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2017/bvg17-095.html
6 Stefanowitsch, a.a.O.
7 (https://www.fr.de/meinung/kolumnen/bundestagswahl-2021-markus-soeder-csu-cdu-uniont-gendernbayern-
afd-meinung-kolumne-90997986.html, 23.9.2021)
Weitere Äußerungen dieses Users dazu:
- "In dieser sehr privilegierten Oberschichtenwelt, wird vergessen dass, z. B. Ich, als Teil der LGBTQ+
Community, zum Sündenbock für 'die Verschandelung der Sprache' werde - ohne jemals gefragt worden zu
sein."
(https://www.fr.de/frankfurt/debatte-ueber-cancel-culture-die-un-freie-sprache-91067141.html, 22.10.2021)
- "Es (das Gendern) überdeckt Diskriminierung mit netten Worten. Man markiert, die lgbtq+ Community als
Störenfriede die anderen Vorschreiben wollen wie sie zu sprechen haben. (...) Mit neo-feminismus meine ich
eine Teilströmung des Feminismus, die sich stark auf Sprache und Medien fokussiert. (...) Der dauerbeleidigte
sprachdoktornde Neofeminismus hat es geschafft, dass Menschen das Gefühl haben, für ihre eigenen
Community nicht mehr gut genug zu sein. Er spaltet."
(https://www.fr.de/meinung/kolumnen/corona-schwubler-querdenker-michael-wendler-recht-links-liedgut-
90104654.html,19.11.2020)
- "Wer sich so zentral mit Worthygiene beschäftigt, dem geht es um Profilierung und nicht um eine
Verbesserung der Situation von Minderheiten."
(https://www.fr.de/meinung/kommentare/wdr-die-letzte-instanz-weisse-rassismus-gottschalk-beisenherzkunze-
tv-kritik-sprache-diskriminierung-90187639.html, 02.02.2021)
- "Die Frage die man sich stellen sollte ist: Wem nützen die Gendersternchen wirklich? Der AFD oder den
Minderheiten denen sie angeblich helfen sollen?"
(https://www.fr.de/kultur/timesmager/winfried-kretschmann-sprache-gender-geschlecht-sprachpolizei-
90016871.html, 03.08.2020)
8 https://mmm.verdi.de/beruf/gendern-frage-von-macht-und-kreativitaet-59523, 3.7.2019
9 Ebd.
10 Pollatschek, a.a.O.

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