12. Gendern in der Krise: Umkehr aus einer Sackgasse?
Der Schweizer Autor Peter Bichsel beschreibt in der Kurzgeschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“ einen alten Mann, welcher, der Langeweile überdrüssig, sich in die Fiktion hineinsteigert, seine eigene Sprache zu besitzen. Und sie endet traurig, aber nicht tragisch: in völliger Vereinsamung. Denn er hat sein Schicksal selbst verursacht, indem er sich über die Grundfunktion der Sprache hinwegsetzte, Kommunikation zu gewährleisten, und indem er glaubte, ihrer allein Herr zu sein.
Diese Kurzgeschichte könnte parabolisch stehen für das Verhalten der Gendern-Bewegung. Das selbst verschuldete Schicksal des alten Mannes erscheint aber harmlos im Vergleich zu dem, was auf die Gesellschaft zukäme, wenn die wahrscheinlichen Entwicklungen sich bewahrheiten würden, die sich aus der vorstehenden Analyse ergeben.
Denn wenn in der Kurzgeschichte der alte Mann vereinsamt, so sind es in der Realität eher andere Menschen, die das Schicksal des Rückzugs aus der Gesellschaft und der Vereinsamung ereilen würde: Menschen, die sich durch die Gendern-Bewegung bevormundet, ihrer Sprache und damit eines wesentlichen Teils ihres Selbst beraubt fühlen. Menschen, die das Vertrauen in den Sinn eines demokratischen Diskurses, vielleicht gar der Demokratie verloren hätten.
Nach der Analyse der fatalen innenpolitischen Rolle der Gendern-Bewegung bleibt schließlich noch die Kernfrage dieses Essays zu erörtern:
Nach der eingangs beschriebenen „Zeitenwende“ sind die westlichen Demokratien in ihrer demokratischen Verfassung existentiell erschüttert. Und nachdem dieses Faktum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist, wird zurecht nach den daraus folgenden Konsequenzen gefragt: insbesondere in Bezug auf des eigene Verhalten gegenüber der Gemeinschaft.
Welche Auswirkungen sind also durch die von der Gendern-Bewegung betriebene Spaltung der Sprachgemeinschaft in nationaler wie internationaler Hinsicht zu erwarten? Welche Chancen auf Veränderung ihrer dogmatisch-destruktiven Haltung bestehern?
Selbstverständlich lässt sich dazu keine gesicherte Prognose abgeben. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt solches zu versuchen wäre fahrlässig.
Auch an dieser Stelle sind nur Anregungen für eine breitere Diskussion zu erwarten.
Linguistische Analysen, auf die sich der öffentliche Diskurs - wenn überhaupt - nahezu ausschließlich konzentriert, sind sicher wichtig, sie sind aber gerade bei dieser Frage nicht ausreichend.
Zwar ist hier deutlich geworden, dass die Gendern-Bewegung in eine Sackgasse führt, mit problematischen Auswirkungen auf die Sprachgemeinschaft insgesamt. Daraus lassen sich aber keine stringenten Aussagen für die politische Entwicklung in der Krisensituation ableiten.
Über rein linguistische Erörterungen hinaus, bedarf es einer breiten und stringenten politischen Diskussion und Bewertung - wie es im letzten Abschnitt in innenpolitischer Hinsicht versucht wurde. Und auch historische Analogien, an denen immanente Entwicklungstendenzen erkennbar sind, können hilfreich sein. Freilich ist bei Vergleichen immer Vorsicht geboten.
Vor allem hat man sich hüten, dabei die Fehler der Gendern-Bewegung zu wiederholen.
Die Vorstellung, dass Denken und Handeln durch Sprache deterministisch geprägt seien, führt die Gendern-Bewegung zu ihrem aberwitzig erscheinenden Versuch, die Gesellschaft über Manipulation des Sprachsystems „revolutionär“ zu verändern.
Sprache aber bestimmt nicht in deterministischer Weise das Denken, und noch weniger das Handeln - auch nicht in politischer Hinsicht.
Die Gendern-Bewegung wird insofern Opfer ihrer eigenen Ideologie, als aus ihren falschen Grundannahmen ein geschlossenes, deterministisches Weltbild resultiert, aus dem auszubrechen man nicht mehr in der Lage ist: Alternative Handlungsmöglichkeiten, die außerhalb ihrer engen ideologischen Prämissen liegen, kommen gar nicht erst in den Blick.
Sehr deutlich wird dies gegenwärtig in der Ukraine: Dort spricht bekanntlich ein großer Teil der Bevölkerung russisch. Deterministische Gendern-„Logik“ schließt daraus auf Sympathie für Russland. Wer solche Menschen kennt, der hört die Empörung, wenn ihnen so definitorisch die Fähigkeit abgesprochen wird, aus schrecklichen Erfahrungen eigene Konsequenzen zu ziehen. –
Ein Beispiel, wie die Gendern-Ideologie den Blickwinkel in fataler Weise verengt, so auch in aktuelles politisches Geschehen eingreift und produktive Lösungen verhindert.
Alternativen, neue Entwicklungen zu erkennen ist aber die Grundvoraussetzung, um Zeiten der Krise zu meistern. Dies wiederum setzt Offenheit, Differenziertheit, selbstkritische Haltung und Bereitschaft voraus, eingeschliffene Denkweisen zu verlassen, neue Wege einzuschlagen: mit dem verinnerlichten Ethos gesellschaftsdienlichen Handelns als Prinzip.
Fähigkeiten, die im Zuge des Gendern-Eskapismus verschüttet wurden, vielleicht gar verloren gegangen sind.
Es geht bei der hier zu erörternden Frage also nicht um sprachliche Fehlleistungen der Gendern-Bewegung im Einzelnen, sondern um engstirniges, deterministisch festgelegtes Denken und ein irriges Grundkonzept im Ganzen sowie um deren fatale Folgen.
Im Hinblick auf weitere mögliche Entwicklungen werden im Folgenden Gefahren, die aus Fehlern der Gendern-Bewegung resultieren, Chancen gegenübergestellt, die Krisenzeiten auch innewohnen.
Zu den Gefahren:
In Hinsicht auf die Eingriffe in das Sprachsystem durch die Gendern-Bewegung sind Tendenzen einer Rückwärtsentwicklung des Deutschen als Kultursprache , die im 10. Abschnitt aufgezeigt wurden, langfristig durchaus ernst zu nehmen - auch wenn dies hier nicht im Vordergrund steht.
Denn Sprache ist sehr zäh und verzeiht keine tiefgehenden Eingriffe. Auch Nonsens verschwindet nicht von selbst.
So sind viele von Nazis eingeführte Begriffe und Verhaltensweisen heute noch gebräuchlich, manche davon, ohne dass man sich ihrer Herkunft noch bewusst ist. 48 So etwa der im demagogischen Diskurs beliebte kollektive Singular vom Typ „der Russe“, „der Deutsche“ usw..
Und er geistert aktuell wieder als ominöser „Wählerwille“ durch Wahlanalysen und Diskussionen um Koalitionen, um Menschen, die anders argumentieren, als „undemokratisch“ zu denunzieren. 49
In Krisenzeiten wird solche polarisierende bis hetzerische Begriffsbildung – so von der AfD – bewusst aktualisiert, um Denken in menschenverachtender Weise zu prägen. So zeigen sich schon im Vorfeld bedrohliche Entwicklungen, ausgelöst durch unverantwortliche Eingriffe in das Sprachsystem.
Im aktuellen politischen Kontext geht es aber mehr um Folgen aus den vorstehend aufgezeigten Verhaltensweisen, die mit Gendern verbunden sind und die Merkmale einer intransigenten Ideologie erkennen lassen. Diese verschärfen sich in einer Krisensituation, die durch Konfrontation im Innern und nach außen geprägt ist.
Im Einzelnen sind als inakzeptable Verhaltensweisen der Gendern-Bewegung zu nennen:
- Maßnahmen unter Verzicht auf demokratischen Diskurs zu exekutieren oder zu verordnen,
- Feindbilder im Innern zu schaffen (wie „alte weiße Männer“), Diskriminierung zu befeuern (wie „Cancel Culture“), und das unter dem Label des Kampfes gegen Diskriminierung,
- Machtpositionen in Institutionen wie Universitäten, Schulen oder Medien für undemokratische Formen der Beeinflussung zu missbrauchen, unter Verletzung des Grundrechts auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ nach GG, Art. 2,
- durch Überlagerung jeglichen Sprechens mit sexistischen Subtexten den gesellschaftlichen Diskurs in pauschalisierender Weise zu prägen und so zu differenziertes Denken zurückzudrängen.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Verhaltensweisen, von der großen Mehrheit der Bevölkerung als willkürlich und bevormundend empfunden, zusätzlich Unmut und Demokratieverdrossenheit befeuern.
In Krisenzeiten, wenn überlegtes, verantwortliches Handeln besonders nötig ist, können die daraus resultierenden Konflikte gefährliche Ausmaße annehmen:
Reale Bedrohungen werden relativiert oder verdrängt und Konflikte nach innen getragen.
In der gegenwärtigen Diskussion über Konsequenzen aus der imperialistischen Aggression von Putin-Russland gegenüber der Ukraine gibt es zahllose Beispiele, die solche Tendenzen erkennen lassen.
Zu den Chancen:
Krisenzeiten wohnen auch Chancen inne, wie sich gerade jetzt bei der Herausforderung durch einen imperialistischen Krieg in Europa zeigt:
Das Bewusstsein existentieller Bedrohung fördert die Bereitschaft, über unterschiedliche nationale Interessen, über parteipolitische Differenzen hinweg in der Abwehr der Gefahren zusammenzustehen.
Das beinhaltet auch die Chance, aus vergangenen Fehlern und Verirrungen zu lernen, sich zur Umkehr durchzuringen, gegenwärtige Verirrungen rechtzeitig zu erkennen. Der gegenwärtige Lernprozess innerhalb großer Teile der deutschen Friedensbewegung ist ein Beispiel dafür.
Vergleicht man mit den erstaunlichen Entwicklungen, welche die „Zeitenwende“ im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten bewirkt hat, so ist der Fanatismus und die Intransigenz, welche die Gendern-Bewegung bisher zeigt, umso erschreckender.
Denn den genannten Lernprozessen stehen, zumindest in rechtsnationalistischen Kreisen, unverkennbare Versuche gegenüber, die gegenwärtige Krise zur Beförderung imperialistischen Denkens im Sinne Putins zu nutzen - in perfider Weise sogar unter dem Deckmantel einer angeblichen „Friedenspartei“.
Zwar gibt es bisher noch keine stringenten Belege, dass solche destruktiven Tendenzen mit der Gendern-Frage zusammenhängen. Wie oben gezeigt wurde, wird ein direkter Bezug zu mit politischen Positionen erst in einem Framing hergestellt, um Feindbilder zu erzeugen - und zwar sowohl von rechtsnationalistischer Seite wie auch von der Gendern-Bewegung.
Aus den Analysen geht aber auch hervor, dass so durchaus ein Einfluss auf den öffentlichen Diskurs im Sinne von Polarisierung und Verschärfung ausgeübt wird. Dies wäre freilich erst in einer eingehenderen politischen Analyse detaillierter aufzuzeigen.
Doch selbstkritische Überprüfung der eigenen Positionen, Rückbesinnung auf gemeinsame gesellschaftliche Verantwortung ist auch und gerade von der Gendern-Bewegung zu fordern.
In dieser Hinsicht stellt sie keine Avantgarde, sondern das Schlusslicht bei der Entwicklung dar, die durch die „Zeitenwende“ in Gang gekommen ist.
Als Fazit aus der vorstehenden Analyse gibt es vor allem folgende Erkenntnisse:
Die eingangs aufgeworfene Frage, ob man sich angesichts existentieller Herausforderung für Europa heute noch die vorrangige Beschäftigung mit den von der Gender-Bewegung aufgeworfenen Luxusproblemen leisten kann, ist eindeutig mit „Nein“ zu beantworten.
Zu eindeutig ist ihre hier aufgezeigte fragwürdige Rolle in der demokratischen Gesellschaft. Zu groß sind die anstehenden Herausforderungen, die eine Konzentration auf die anstehenden existentiellen Probleme erfordern.
Das heißt freilich nicht, dass das zunächst durchaus respektable Anliegen der Gendern-Bewegung - entsprechend ihrem Selbstverständnis - ad acta zu legen wäre: Toleranz und Respekt zu üben gegen jedermann, gegen jede Frau und insbesondere gegen Minderheiten.
Im Gegenteil: Dieses Anliegen ist viel zu bedeutend und zu ernst, als dass man es einer Bewegung überlassen dürfte, die diesen Anspruch nicht einzulösen vermag. Die sich vorwiegend selbst bespiegelt, die Realität zu verändern meint, indem sie sich in Fiktionen verirrt, welche die Gemeinschaft spaltet statt sich solidarisch in ihr einzubringen.
Dies ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Dies verlangt, dass man den Grundwert der Solidarität aus dem verengenden Blickwinkel herausholt und - entsprechend der Menschenrechtserklärung - wieder im weiten, internationalen Sinn versteht. Dass sich der Blick in erster Linie auf diejenigen richtet, die ihrer am dringendsten bedürfen.
Hoffnungsvolle Ansätze in einem solidarisch zusammenwachsenden Europa gibt es ja.
Doch sollte man auch, was die Gendern-Bewegung betrifft, die Hoffnung nicht aufgeben - selbst, wenn gegenwärtig keine Anzeichen zur Besinnung erkennbar sind.
Man sollte Ansätze in dieser Richtung fördern und nicht ausschließen, dass man auch hier die eigenen ideologischen Barrieren doch noch erkennt, hinter denen man sich verschanzt, dass man den Weg des offenen gesellschaftlichen Dialogs doch noch sucht.
Dass man den Weg aus der Sackgasse sprachlicher Fiktionen zurück zum Grundprinzip gemeinsamer Emanzipation doch noch findet:
"Der Weg zu Gleichheit ist Gleichheit.“
Die eingangs angesprochene „Zeitenwende“ könnte einen Anstoß dazu geben und so ihre positive Seite entfalten.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Dies gilt auch und besonders in existentiellen Notsituationen.
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48 Vgl. dazu: Verbrannte Wörter: Sprechen wir noch wie die Nazis? | Bücher | DW | 19.03.2019
49 Auch hier hat sich jüngst wieder Markus Söder in unrühmlicher Weise hervorgetan, indem er meinte, Überlegungen nach möglicher Fortsetzung einer Koalition in Berlin, die 57 % der Stimmen auf sich vereint, als „Missachtung der Demokratie"
brandmarken zu müssen:
Berlin-Wahl: Giffey will mit CDU als auch Grüne/Linke sondieren - „Rotes Rathaus rot halten“ (fr.de), 13.02.2023
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